Gestalt des letzten Ufers – Lyrik von Michel Houellebecq
Er ist ein großer Literat und begnadeter Sprachkünstler. Das erkennen selbst Kritiker an, die Michel Houellebecq im gleichen Atemzug seine Berserkerprosa ankreiden und sich über seine frustierten, amoralischen und provozierenden Protagonisten erregen. Seine Romane sind Gesprächsstoff, nach den Terroranschlägen von Paris insbesondere Unterwerfung, sein letztes Werk. Seine Lyrik wird seltener beachtet. Dabei leistet der literarische Außenseiter Houllebecq auf diesem Feld beachtliches.
Im Frühjahr 2014 hat er sich mit dem Gedichtband Gestalt des letzten Ufers (Configuration du derniére Rivage) nach einer dreijährigen Pause, die er nach seinem mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman Karte und Gebiet eingelegt hatte, eindrucksvoll zurückgemeldet. Gestalt des letzten Ufers zeigt einen stillen, beinahe nachdenklichen Houellebecq, der seinen großen Themen dennoch treu bleibt. Alle, die derzeit seinen aktuellen Roman Unterwerfung lesen und kontrovers diskutieren, sollten auch einen Blick in den mittlerweile ein Jahr alten Gedichtband riskieren; nicht als Kommentar, sondern als Ergänzung.
Ich habe diese Gedichte, Aphorismen, Gedankensplitter und kurzen Prosastücke gelesen als das Resumee eines alten(?) Mannes, der am Ende des Lebens dem Tod entgegensieht, ihn aber nicht wirklich erwartet, und dabei den Niedergang und die von ihr selbst betriebene Auflösung und Auslöschung der Gesellschaft reflektiert.
Durch den Tod des Reinsten
Wird jegliche Freude zunichte gemacht
Wie ausgeweidet ist die Brus,
Und das dunkle Auge sieht in allem nur Dunkles.Es dauert einige Sekunden,
Eine Welt auszulöschen.
Natürlich ist auch die Lyrik in Gestalt des letzten Ufers gespickt mit sattsam bekannten Lieblingsmotiven des französichen Skandalautors; Weltschmerz, Depression, Krankheit und Sex. Doch wirklichen Anlass für Empörung und fette Schlagzeilen liefern die Gedichte nicht.
Der als fünfteiliger Zyklus angelegte Gedichtband ist eine bittere Abrechnung, zynisch, ernüchtert und von Melancholie, Resignation und Lamoryanz durchzogen, wie man es von Houllebecq kennt oder zu kennen meint. Auch eine gewisse Redundanz ist unverkennbar. Doch gleichzeitig schimmern helle Momente der Liebe und Empathie auf, und die lastende Schwere des Niedergangs wird abgelegt. Houellebecqs Lyrik verlangt ein langsames Lesetempo und wiederholte Lektüredurchgänge, sie provoziert den Leser förmlich, hinter dem, was zunächst eindeutig und düster erscheint, die ambivalenten und mehrschichtigen Motive zu suchen. Dann leuchten die Texte plötzlich und lassen Funken von Hoffnung erkennen im Nebel der Resignation. Achtung, die Gefahr ist groß, diese Texte als sehr autobiographisch aufzufassen, in ihnen die Abrechnung (und Vergewisserung) des Michel Houllebecq mit sich selbst und der Gesellschaft zu sehen.
November
Ich kam in das kleine Café am Ufer des Flusses,
Ein wenig gealtert ein wenig blasiert
Ich schlief schlecht in einem Hotel mit neuen Zimmern
Erholung fand ich dort nicht.Es gibt Paare und Kinder, die gehen gemeinsam
Im Frieden des Nachmittags
Es gibt sogar junge Mädchen, die dir ähnlich sehen
Bei den ersten Schritten ihres Lebens.Ich sehe dich im Lichte wieder,
In den Liebkosungen der Sonne
Du hast mir das ganze Leben geschenkt
Und seine Wunder.
Die Männer
Die Männer wollen alle nur den Schwanz
gelutscht bekommen
So viele Stunden am Tag wie möglich
Von vielen hübschen Mädchen wie möglichAbgesehen davon interessieren sie sich für technische
Probleme.Ist das ausreichend klar?
Houllebecqs Lyrik hat Stärken und Schwächen und sie hat diesen typischen houellebecqschen Ton, den man mag oder nicht. Mir haben die Gedichte viele nachdenkliche, vergnügliche, aber auch schmerzliche Lektüremomente verschafft, und ich nehme den Band wieder gerne in die Hand. Geben Sie der Lyrik von Michel Houellebecq eine Chance, sie hat es verdient.
Mein Leben, mein Leben, mein sehr altes,
Mein erster schlecht verborgener Wunsch
Meine verstümmelte erste Liebe
Du hast zurückkehren müssen.