Martin L. und die kleinen Gespenster – Ein Traumgesicht zum 500. Reformationstag
Brääng! Martin L. schreckte hoch. Es dröhnte in seinen Ohren. Brääng! Dabei hatte der Abend so geruhsam begonnen, er hatte sich das Buch vom Tisch gegriffen, sich in seinen Sessel fallen lassen und zu lesen begonnen.
Bräääng! Wieder das Geräusch. Er war wohl eingenickt. Nun polterte es. Jemand trommelte mit Fäusten an die Wohnungstür. Brääng! Erneut die Klingel. Martin quälte sich aus seinem Sessel, das Buch rutschte ihm vom Schoß und knallte auf den Boden. Eine Seite knickte um und riss ein. Martin starrte auf das Buch, das wie eine Ente mit gebrochenem Flügel vor ihm lag. Er fluchte, schlurfte durch den Flur und zog mit einem kräftigen Ruck die Tür auf.
Zwei kleine Hexen mit Zahnlücken grinsten ihn an. Neben ihnen wackelte ein kleines, weißes Gespenst von rechts nach links. Seltsam, ein Gespenst mit Turnschuhen, schoss Martin durch den Kopf. Hinter den Hexen ragte ein schlacksiger Dracula auf, er blickte finster und hatte Akne. An seiner rechten Hand baumelte eine prall gefüllte Lidl-Tüte.
Tick or treat! quiekten die beiden Hexen vergnügt. Süßes oder Saures, echote das kleine Gespenst.
Trick, es heißt trick! Trick or treat, bellte Martin zurück. Das Grinsen und die Zahnlücken verschwanden aus den kleinen Hexengesichtern. Das Gespenst wackelte nicht mehr.
Luther, schon mal was von Martin Luther gehört? zischte Martin bedrohlich. Heute ist Reformationstag, der 500. um genau zu sein. Die beiden Hexen, das Gespenst und Dracula glotzten. Hier ein Neues Testament, ihr Spacken. Das hat er damals ins Deutsche übersetzt. Eigentlich hat er unser Deutsch überhaupt erst erfunden.
Martin trat energisch vor und drückte dem verdutzten Dracula das Neue Testament vor die Brust. Nimm das. Und jetzt verduftet. Der Untote wankte, dann griff er nach dem Buch. Alter, wie scheiße ist das denn. Dracula fand seine Sprache nur mühsam. Martin grinste sardonisch.
Am Treppenabsatz eine halbe Etage tiefer tauchte eine Frau auf. Belästigen sie die Kinder? Lassen Sie das! Ich rufe die Polizei. Schon fummelte sie in der Manteltasche und zog ein Handy hervor.
Die Blagen belästigen mich, murmelte Martin. Sich mit diesem mütterlichen Bodyguard anzulegen führt zu nix, schoss ihm durch den Kopf. Alles zwecklos. Er knallte die Tür zu. Halloween? Halloween, das hatten die Iren vor über tausend Jahren erfunden, kurz nachdem sie katholisch wurden, aber ihre Geister nicht aufgeben wollten. All Hallow’s Eve. Katholiken! Martin schüttelte den Kopf und ging ins Wohnzimmer zurück. Als sie in den Hungerjahren nach Amerika ausgewandert sind, nahmen die Iren den Gespensterglauben mit. Martin hatte das irgendwo gelesen. Die Amis fahren da voll drauf ab. Ich nicht, bin ja kein amerikanischer Ire, sondern Protestant, beschloss Martin, liess sich in seinen Sessel fallen und döste sofort wieder ein.
(…)
Brääng! Martin L. schreckte hoch. Es dröhnte in seinen Ohren. Brääng! Schlagartig wachte Martin entgültig auf. Was hatte er da bloß geträumt?! Die Klingel, da klingelt jemand an der Tür. Martin legte das Buch zur Seite, stand auf und schlich durch den Flur. Vorsichtig spähte er durch den Türspion.
Draußen standen ein kleiner Mann mit einem Beil im Kopf und Ketchupflecken auf einem weiten, weißen Hemd, sicher von Papi geliehen, dachte Martin, und eine kleine, grinsende Hexe. Keine Zahnlücke, bemerkte Martin, komisch. Die Optik des Türspions verzerrte die Geistererscheinung. Am Rande des Blickfelds erahnte Martin eine Frau und einen Mann mit Taschenlampen. Sie standen eine halbe Treppe tiefer und behielten die kleinen Monster im Blick, in sicherem Abstand, aber jederzeit bereit, schützend einzuschreiten.
Brääng! Die Schelle ist zu laut. Schon lange hatte Martin sich vorgenommen, sie auszutauschen gegen eine mit dezenterem Ton. Brääng! Martin blieb stehen, schaute weiter durch den Spion und hielt den Atem an. Die Tür öffnete er nicht; wie immer an einem 31. Oktober.
Bildnachweis: »Halloween Pumpkins« von Thomas Malyska | Quelle: pixabay.com || »Porträt des Martin Luther (Lucas Cranach d.Ä. (Werkstatt)) | Quelle: Wikimedia Commons