Endlich – Richard Wagner historisch-kritisch

Runde Jubiläen sorgen stets für eine Schwemme von Neuerscheinungen zu historischen Themen oder Persönlichkeiten. Zu Richard Wagners 200. Geburtstag im Mai 2013 ist das nicht anders. Wenig wirklich neues ist da zu sichten, viel altbekanntes und ebenso viel überflüssiges. (Mehr dazu demnächst bei lustauflesen.de). Doch zu vermelden ist auch eine Sensation. Endlich wird eine historisch-kritische Ausgabe von Richard Wagners Schriften in Angriff genommen, ein editorisches Mammutunternehmen. Das ist mir im November 2012 doch glatt durchgerutscht. Erst jetzt, kurz nachdem ich meine Magisterarbeit über den Bayreuther Ring der Jahre 1976-1980 wieder online gestellt habe, stolperte ich über die offizielle Meldung der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur, bei der das Mammutvorhaben angesiedelt ist. “Richard Wagner Schriften (RWS). Historisch-kritische Gesamtausgabe“: so der offizielle Titel des Unternehmens. Geleitet wird es vom Würzburger Musikwissenschaftler Ulrich Konrad. Für die Wissenschaft, aber auch für Wagnerenthusiasten wie mich, wird mit dieser Ausgabe ein langersehnter Wunsch wahr. Bis die ersten Bände vorliegen, ist allerdings noch Geduld gefragt.
Dichtungen und Schriften
“Richard Wagner war zeitlebens nicht nur als schöpferischer Musiker produktiv“, erklärt Ulrich Konrad. “Neben den Dramentexten für seine eigenen Opern hat er zahlreiche Schriften verfasst, in denen er sich mit Themen aus Kunst, Geschichte, Philosophie, Religion, Politik und Gesellschaft seiner Zeit beschäftigte”. Diese seien “ein herausragendes geistes- und kulturgeschichtliches Zeugnis des 19. Jahrhunderts mit denkbar breiter Ausstrahlung“. Wagner selbst unterschied seine Texte sorgfältig zwischen “Dichtungen“ und “Schriften“. Während es für die Dichtungen im Rahmen der “Sämtlichen Werke” inzwischen eine aktuellen wissenschaftlichen Standards genügende historisch-kritische Ausgabe gibt, fehlt diese für den Bereich der “Schriften“. Das wird sich nun ändern.
In den kommenden 16 Jahren wollen die Wissenschaftler rund 170 Schriften Wagners im Umfang von insgesamt etwa 4.100 Seiten nach editionswissenschaftlichen Standards bearbeiten und publizieren. Sie erhalten dafür jährlich 305.000 Euro, gesamt also knapp fünf Millionen Euro. Das Vorhaben ist deshalb so kompliziert, weil viele Handschriften, Vorstudien und Entwürfe zu Wagners Schriften auf Bibliotheken und Sammlungen in aller Welt verstreut sind, viele befinden sich obendrein in mitunter schwer zugänglichem Privatbesitz.
Eine hybride Edition
An der Ausgabe werden Experten aus Musikwissenschaft, Geschichtswissenschaft, Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturgeschichte arbeiten. Derzeit laufen die Vorbereitungen, darunter auch die Aufstellung eines (vorläufigen) Editionsplanes. Am Ende wird allerdings kein dickes Konvolut gedruckter Bände stehen. Die RWS werden mit Hilfe der modernen Computerphilologie erstellt.In Form einer “hybriden Edition“ wollen die Forscher Wagners Schriften zukünftigen Lesern präsentieren. Es wird in acht Werkmodulen jeweils ein oder zwei Lesebände, sowie einen Kommentarband geben. Alles zusätzliche Material, also der vollständige philologische und dokumentarische Apparat soll digital veröffentlicht werden, auf beigelegten Medien oder auf einer Onlineplattform. Daß die Federführung des Projektes RWS am Institut für Musikforschung der Universität Würzburg liegt, ist sinnvoll, denn dort wird bereits seit Anfang 2006 an einer Ausgabe “Richard Wagner: Sämtliche Briefe“ gearbeitet.
Zur derzeitigen, höchst unbefriedigenden Schriftenlage
Die historisch-kritische Gesamtausgabe von Wagners Schriften ist mehr als überfällig. Eine wirklich fundamentale und kritische Auseinandersetzung mit Wagners ästhetischen, politischen und weltanschaulichen Ansichten scheiterte bislang häufig an der ungenügenden Quellenlage. Wagner selbst besorgte in den Jahren 1871 – 1873 die Ausgabe der ersten neun Bände seiner “Gesammelten Schriften und Dichtungen”, ein zehnter Band wurde 1883 posthum hinzugefügt. Viele Texte hat Wagner für die GSD be- oder überarbeitet. Vieles wurde nachträglich korrigiert, einiges sogar extrem verfälscht, denn Wagner hat zeitlebens an der eigenen Legende gestrickt.
In den Jahren 1911 – 1916 wurden die GSD um weitere sechs Bände ergänzt zu “Sämtliche Schriften und Dichtungen”, in der Wagnerliteratur meist als SSD bezeichnet. Vollständig ist auch diese Ausgabe nicht und das zum Teil sehr willkürlich ausgewählte, hinzugefügte Material ist ungeordnet. !982 besorgte Dieter Borchmeyer (zum 100. Todestag Wagners) eine Jubiläumsausgabe der “Dichtungen und Schriften” in 10 Bänden. Aus verlegerisch-kalkulatorischen Gründen konnte auch diese Ausgabe nur eine Auswahl, wenn auch eine solide und maßvoll geordnete, der wichtigsten Wagnertexte enthalten. (Bleibt noch zu erwähnen, dass diese Ausgaben derzeit alle nur antiquarisch vorliegen, die GSD dabei extrem selten.)
Eine historisch-kritische Augabe ist also mehr als überfällig. Erst auf der Grundlage verlässlicher Textbestände können Wagners theoretische Überlegungen zu Ästhetik, Politik, Gesellschaft und Musik, aber auch jene unsäglichen Gedanken zu Judentum und Antisemitismus, umfassend analysiert und bewertet werden. Von RWS werden wichtige Impulse ausgehen, da bin ich mir sehr sicher.
Foto: © F. Hanfstaengl