Von Ratten und Würmern. Oder: Wer viel liest, wird (auch) beschimpft

Wer viel liest, womöglich gierig, wahllos und ohne hehren Anspruch, ist eine Lesereatte. So sagt es der Volksmund. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist diese scherzhahfte Bezeichnung des Viellesers bekannt. Nun ist die Ratte an sich eine schlaue Überlebenskünstlerin, ein Tier, das in sozialen Verbänden lebt und als Kulturfolger dem Menschen eng verbunden ist. Doch ihre Gier, ihr Hang, Vorräte wahl- und maßlos zu verschlingen, verschaffte ihr ein denkbar schlechtes Image. Hinzu kommt, dass sie tödliche Krankheiten wie die Pest übertragen kann (woran genaugenommen nicht die Ratte schuld ist, sondern ein Parasit, der sich ihrer bemächtigt.) Wer seinem menschlichen Gegenüber das Simplex Ratte entgegenschleudert, meint das in der Regel verächtlich und schimpft aufs übelste. Nahezu alle Komposita mit dem Wort Ratte, wie etwa Rattenloch und Rattenschwanz, bezeichnen Negatives.

Leseratte, Bücherwurm und Co.
Die Ratte, schlauer Kulturfolger und Schädling

Die Leseratte kennzeichnet sich durch die völlige Wahllosigkeit, mit der sie alles erreichbare  Lektüre in sich hineinschlingt, vom Kochbuch bis zu Zarathustra, und ihre unersättliche Gier nach Lesefutter kann umschlagen in Lesewut und Lesesucht. Hoppla, zwei weitere negativ besetzte Wortbildungen. Hier die von unkontrollierter Emotion befeuerte Rage, die mitunter in der Gewalt ihr einziges Ventil findet, und dort die krankhafte Gewöhnung des Körpers und des Geistes an eine Substanz, die eben diesen Körper und Geist physiologisch und psychologisch zersetzt.

Die Lesesucht hat ihren Ursprung im 18. Jahrhundert, als das aufstrebende Bürgertum begann Romane zu lesen, eine literarische Gattung, die sich just zur Befriedigung eben dieser Lesesucht erst richtig zu etablieren begann. Unterhaltung, Ablenkung und sinnliches Vergnügen standen im Vordergrund, nicht Erbauung, Belehrung und Wissensvermittlung. Klerus und Hochadel, die bislang priviligiert waren zu lesen, sahen in der Lesewut des niederen Bürgertums, also in der unkontrollierten Rage, mit der Lesestoff produziert und verschlungen wurde, eine heftige leiblich-seelische Erregung, die an den Grundfesten hergebrachter sekularer und religiöser Ordnungen rüttelte und mit Siechtum und Verfall einherging. Als besonders verwerflich galt, dass auch (und besonders) Frauen dieser Lesewut und Lesesucht verfielen, ja, sogar als Autorinnen selbst neuen Lesestoff schaffen wollten.

Die Begriffe haben überlebt, auch wenn sich die Haltung zum Lesen grundlegend geändert hat. Doch selbst heute noch dienen Lesewut und Lesesucht abseits scherzhafter Verwendung der Distinktion, etwa wenn die Wahl der Lektüren der anderen als nicht adäquat angesehen werden.

Leseratte, Bücherwurm und Co.
Carl Spitzweg, Der Büchernarr (Zweite Version, ca. 1851)

Etwas anders gelagert, wenn auch nicht viel besser ist die Sache beim Bücherwurm. Im Gegensatz zur Leseratte scheint seine Herkunft exakt belegbar zu sein. Im Deutschen Wörterbuch zitieren die Grimms Lessings Drama Der junge Gelehrte von 1749 als frühesten Nachweis. Alles andere als sexy und zeitgemäß wirkt der Bücherwurm auf dem gleichnamigen Gemälde von Carl Spitzweg. Ein weißhaariger, alter Mann, der sich kurzsichtig durch Folianten wühlt. Er steckt den Kopf so tief ins Buch, als fräße er darin. (Vom Bücherwurm zum Stubenhocker übrigens führt lediglich ein winziger Schritt.)

Tatsächlich vernichten die Larven mehrerer Nagekäferarten Bücher. Ursprünglich auf Totholz spezalisiert, nehmen sie auch holzhaltiges Papier als Nahrung. Druckerschwärze meiden sie, nagen vielmehr um das gedruckte Wort herum, vernichten den Text dennoch restlos. Somit ist auch Bücherwurm ein vergifteter Begriff. Vor allem, wenn es um das Erlangen und Verwalten von Fakten geht. Entweder klebt der Bücherwurm am veralteten und verstaubten Bibliothekswissen, ignoriert, dass nichts schneller veraltete als das gedruckte Wort, verweigert sich als der frischen Information oder er frißt als Nagewurm den Informationsträger restlos weg, um mit ihm auch den Inhalt selbst in Verdauungsrückständen zu begraben. Beides ist auf seine Art dem Wahn verwandt.

Womit wir beim Büchernarr wären: Als Narren bezeichnen wir in erster Linie den Spaßmacher und Spötter, der straffrei selbst Herrschende kritisieren und sich über sie lustig machen darf. Doch auch eine Person, die sich unreif, voreingenommen und ignorant verhält, jemand der seine Unwissenheit nicht als Unwissenheit erkennt, gilt als Narr. Nach der kräftigsten, wohl ältesten, allerdings bereits im Grimm’schen Wörterbuch als veraltet bezeichneten Bedeutung ist der Narr dem Toren verwandt, »eine verrückte, irrsinig und überhaupt geisteskranke, an einer fixen Idee leidenden Person«. Höchst verunglimpfend ist es demnach, den Vielleser als Bücher-Narren zu bezeichnen. Nimmt der Wahn überhand, führt das gar zur Bibliomanie, der übersteigerten Leidenschaft für Bücher, die durch Wahllosigkeit (Anhäufen) und auch Verständnislosigkeit (Stumpfheit) gekennzeichnet ist. Der manische Büchernarr lebt in seiner eigenen Welt, mag darin sogar glücklich sein, aber verliert jeden Bezug zum Inhalt der Bücher und jeglichen Kontakt zur ihn umgebenden Realität.

Es sind scherzhaft-nette, meist harmlose verwendete Begriffe, aber in ihren Kernen stecken negative Energie und Verachtung. Wer mag da noch Leseratte, Bücherwurm oder Büchernarr genannt werden, wer erfreut sich noch seiner Lesewut oder bekennt sich als lesesüchtig? Tatsächlich existieren kaum positive Bezeichnungen für Vielleser, ich habe jedenfalls keine gefunden. Aber vielleicht habe ich nur nicht gründlich genug gesucht.

Den Anstoß zu dieser kurzen Betrachtung gab die beiläufige Frage einer Arbeitskollegin. Danke, Jade.

Bildnachweis: Carl Spitzweg, Der Büchernarr (Zweite Version, ca. 1851, Central Library of Milwaukee) | Public Domain | Quelle: Wikimedia Commons || »Die Ratte« Zeichnung von Johann Daniel Meyer (1752) | [Public Domain] | Quelle: Wikimedia Commons