Ganz schön zerlegt – Einzelteile im freien Fall
Der Wecker war irgendwann kaputt. Doch ihn einfach nur wegwerfen konnte ich nicht. So wurde aus dem Wecker Kunst. Kunst durch zerlegen. Seit vielen Jahren begleitet er mich als eine Art Memento Mori, die funktionsuntüchtige Uhr steht im Bücherregal und mahnt.
Stopp! Geht’s auch etwas weniger philosophisch? Na klar! Der kaputte Wecker ist auch ein Bild für den kindlichen Trieb, alles zu zerlegen, zu ergründen wie komplex technische Geräte oder Alltagsgegenstände sein können.
Diese Neugier treibt auch Tod McLellan an. Er hat das Zerlegen perfektioniert. Wir werfen Dinge, die nicht mehr funktionieren fort, McLellan nimmt sie auseinander, ergründet ihr Geheimnis, versucht sie zu verstehen. Dazu läßt er die Einzelteile in alle Richtungen auseinanderfliegen, herabpurzeln oder arrangiert sie penibel zu geheimnisvollen Clustern. Der Bildband Ganz schön zerlegt präsentiert Todd McLellans Arbeiten.
Unterteilt in vier Kapitel zeigt dieses Buch kleine, mittlere, große und extragroße technische Alltagsobjekte. Von zerlegten Kultgeräten wie dem iPad oder Hightech-Objekten wie einer Digitalkamera bis hin zu Gebrauchsgütern wie einem (schon fast vergessenen) Bakelit-Telefon mit Wählscheibe, einem Fahrrad oder einem Mixer reicht die Auswahl. Nichts ist davor gefeit, von McLellan auseinander genommen und in Einzelteilen sorgfältig präsentiert zu werden. Selbst ein Klavier, übrigens das Objekt mit den meisten Einzelteilen, mußte dran glauben.
Das folgende Video vermittelt einen Eindruck von McLellans Zerlege-Arbeiten. Dinge bis ins wirklich letzte Einzelteil auseinanderzunehmen, ohne etwas wirklich kaputt zu machen, ist eine Kunst.
50 Objekte, darunter auch intakte Designklassiker, hat McLellen zerlegt. Über 21.000 Kleinteile lassen sich auf den Fotos zählen. McLellan präsentiert die zerlegten Dinge auf zwei unterschiedliche Weisen. Entweder sind die Einzelteile akribisch, beinahe nach einem in ihrem Inneren verborgenen Muster, arrangiert; oder er läßt sie im freien Fall durcheinanderpurzeln. Diese spontan wirkenden Aufnahmen sind mustergültig geplant.
McLellan platziert alle Elemente auf einer Plattform unter der Decke und lässt sie dann an der Kamera vorbeifallen – und zwar in ungefähr der Reihenfolge, in der sie zusammengehören. Stroboskop-Blitze und Kameras mit einer extrem hohen Bildwiederholungsrate nehmen sie auf. Manchmal sind alle Bauteile eines Geräts mit einem einzigen Schuss im Kasten, manchmal lässt McLellan sie nur in Gruppen von der Decke fallen und fügt die Bilder später digital zusammen.

Experten-Essays begleiten die außergewöhnlichen Fotografien. Sie werfen interessante Schlaglichter auf unsere Alltagskultur. So entdeckt Kyle Wiens, Mitbegründer des Online-Reparatur-Handbuchs Ifixit, das Reparieren als revolutionäre Methode neu und Gever Tulley, ehemaliger Sofwareentwickler, berichtet von der Gründung der Bastelschule für Kinder. McLellan selbst versteht sein Buch auch als ein Plädoyer für nachhaltige und reparaturfreundliche Produkte:
Geräte aus früheren Zeit waren konzipiert, um ihren Benutzern viele Jahre Freude zu machen. Bei einem Defekt wurden sie tatsächlich noch repariert und nicht einfach weggeworfen. Ich wollte dem Betrachter deren Qualität und auch deren Schönheit zeigen. Aber ich fürchte, dass die neuen Technologien, die nicht mehr nach dieser Methode verfahren, selbst immer schneller ersetzt werden.

Die Kunst, Dinge neu zu ordnen
175 Farbfotografien
Gebunden, 128 Seiten. Format 24 x 34 cm
Potsdam: h.f.ullmann publishing 2013

Ganz schön zerlegt ist ein Bilderbuch, das Freude bereitet und zum Nachdenken anregt. Auf der einen Seite bedient es aufs trefflichste unsere Entdeckerfreude, unseren Spaß am Zerlegen und Begreifen und auf der anderen zeigt es, wie sehr unsere Konsumgesellschaft auf das Wegwerfen, auf das Produzieren von Müll festgelegt ist. Denn viele Objekte, die McLellan zerlegt, lassen sich anschließend nicht wieder zusammenfügen.