Mein Jahr an der Seitenlinie – Ein Blick zurück und ein Blinzeln nach vorn
Das Jahr 2019 habe ich neben dem Spielfeld verbracht, freilich nicht ohne zu beobachten, was sich auf dem Rasen so tut. Von außerhalb der Seitenlinie hat man gute Sicht. Ich sah gekonnte Dribbler, Übersteiger, einstudierte Spielzüge, mal überraschend, mal durchsichtig, freute mich über Tumulte, wenn der Videobeweis zum Einsatz kam und beobachtete gekonnt einstudierte Jubelchoreographien, entdeckte auch das ein oder andere klassische Abseits.
So, jetzt ist Schluss mit der Fußballmetapher: reden wir Tacheles.
Wir wissen alle, die mitunter ausserordentlich selbstreferentielle Buchblogerblase kann Spaß machen, aber genauso gut nerven ohne Ende. Letzteres obwog bei mir, ich hatte schlicht keine Lust mehr auf immergleiche Hypes und Trends, wollte nicht die drölfste Jubel=Empfehlung eines gepushten Debütromans schreiben oder als Besprechung getarnte Blogtexte veröffentlichen, die doch nur gefühlig=annotierte Inhaltsangaben abliefern. Kurz: ich hatte weder Verlangen, noch Kraft, noch Antrieb, dieses Spiel weiterzuspielen.
Mit scheuer Neugier habe ich dennoch hin und wieder neue Bücher angelesen, um fast alle schnell wieder beiseite zu legen. Entweder ihr Thema interessierte mich nicht oder sie konnten mich sprachlich nicht fesseln oder sie versuchten mich zu überrumpeln, wollten mir per simpler Konstruktion Ideen, Ideale und Ideologien einimpfen, auf die ich, mit Verlaub, genauso null Bock hatte und habe wie auf die aufgepeitscht=hysterischen Diskussionen darüber in den sogenannten Sozialen Medien.
Meine Konsequenz: Auswechslung und Abstand. Keine Terminhetze auf Buchmessen, Verzicht darauf, den viel zu vielen Neuerscheinungen hinterherzuhecheln, einfach den Blog ruhen lassen, weil einfach kein Text gelingen wollte, der meinen Ansprüchen stand hielt. Außerdem fehlte Zeit. Mit zunehmendem Alter verlangsamt sich alles. Das Lesetempo nimmt rapide ab, die Aufnahmefähigkeit sinkt. Neben Arbeit, Schlafen, Essen, einfach nur so Rumsitzen bleiben kaum noch freie Stunden für ausufernde Lektüre.
Exkurs 1: Obendrein haben wir nach 14 Jahren Pause einen Sport wiederentdeckt, der ebenso heißgeliebt wie zeitraubend ist.
Exkurs 2: Teils bewundernd, teils stirnerunzelnd nahm und nehme ich zur Kenntnis, wie andere stolze Jahresleselisten von 100 und mehr Büchern mitteilen. Wie zur Hölle schaffen die das, frage ich mich jedesmal. Alle zwei=drei Tage ein neues Buch? Für mich unmöglich zu schaffen und gänzlich außerhalb meines Vorstellungsvermögens.
Zurück zum Thema: Selbstverständlich habe ich gelesen, nur langsamer und weniger und anders. Um die Lektüre einzelner Bücher gruppierten sich bald Neben- und Ergänzungstitel. Manche »fette und bejahrte Schwarte« wurde aus dem Regal gefischt, neu gelesen, punktuell oder vollständig, und in Beziehung gesetzt zu Verwandtem und Abseitigem. Das Projekt »Musil=lesen« lief weiter, ohne Tamtam und große Glocken. Schmidt, Joyce und Beckett traten hinzu und okkupierten Aufmerksamkeit, in seinem Jubeljahr auch immer wieder Humboldt. (Ja, ich weiß, alles Männer! So what?!)
Ein Aber zum Schluss und ein Blinzeln nach vorn: wie dieser Beitrag beweist, kehrt langsam auch die Lust zum Schreiben wieder. Nach einem Jahr Pause, überquere ich die Seitenlinie und wage mich erneut aufs Spielfeld. Nicht als flinker Flügelflitzer oder Mittelfeldmotor, nein, ich werde langsam das Spielfeld hoch- und runtertraben, den ein ein oder anderen Ballkontakt suchen und vielleicht hie und da einen Pass in die Tiefe weiterleiten oder eine Flanke vors Tor wagen. Spezielles Kraft- und Ausdauertraining lehne ich fürderhin ab. Ich lass mich nicht hetzen, kultiviere lieber Standfußball wie in den Siebzigern, langsam, bedächtig und schnörkellos. Das kommt unmodern, ohne Glamour und wenig massentauglich daher? Egal. Ich schaue einfach, wie es wird und was es bringt.
In diesem Sinne: ein gutes, gesundes und rundum befriedigendes Jahr 2020 wünsche ich allen. Man sieht und liest sich in 2020.
Bildnachweis: Foto »Seitenlinie« von Fabricio Trujillo | via Pexels