»Jahres=End=Notate aus der Bücherhöhle« – Zwanzigachtzehn: Das war’s!
Das zurückliegende Jahr war im großen und ganzen leidlich in Ordnung, auch wenn es »lustauflesen.de« retardierende Momente bis hin zum Stillstand bescherte. Die Lust aufs Lesen lebte fort, nur die Lust zu Schreiben schrumpfte auf einen Nullpunkt. Der Blog=Schreibplatz : ein Schwarzes Loch, das mit seiner ewig=kreiselnden Gedanken- und Ideenmasse einen Gravitationskern verdichtete, der keine Materie mehr, nicht einmal die lichteste, los- und hinausließ.
Gelesene Bücher zähle ich nicht und liste nicht ihre Titel. Warum sollte ich auch!? Am Ende (nicht nur dieses Jahres) bliebe meist nicht viel mehr zu notieren, als: »gelesen und zur Kenntnis genommen« – und gar nicht mal so selten nur: »gelangweilt und weggelegt«. Aber wo Schatten, da auch Licht! Einige=wenige Titel bereicherten und erweiterten meine Lesebiographie, setzten markante Akzente, waren (meine) »Bücher des Jahres« quasi.
Joshua Cohen – Buch der Zahlen :: Jeder Roman, jeder Erzählband von Joshua Cohen ist ein Highlight! Punkt! Ein gescheiterter Autor namens Joshua Cohen soll als Ghostwriter die Autobiografie eines Internet- & Computermoguls namens Joshua Cohen schreiben. Buch der Zahlen ist ein Versuch über die Möglichkeit, Romane zu schreiben im Zeitalter des Internets, eine Parabel über ein Götzenbild, einen Sündenfall und einen Exodus ins vermeintlich gelobte Land. Cohen besticht – wie immer – mit einem Roman, der vor Inspiration förmlich sprüht, der vom albernen Kalauer über ironische Anspielungen, aberwitzigen Wortspielen, böser Satire bis hin zu erstaunlichsten Erfindungen mehr bietet, als andere Autoren im gesamten Lebenswerk zu bieten haben. Joshua Cohen ist ein unglaublich belesener und enorm kluger Autor, der seine Belesenheit und Klugheit in jedem seiner Texte vor sich her trägt. Er darf das, denn sein Witz und Humor schrecken auch vor der eigenen Eitelkeit nicht zurück. Das ist Literatur, die klug macht, während sie unterhält und unterhält, während sie uns Neues lehrt. (Link zur ausführlichen Besprechung)
Fernando Aramburu – Patria :: Cover-Label á la »Ein großartiger Familienroman« stimmen mich normalerweise skeptisch. Gut, dass ich Patria trotzdem gelesen habe, denn Aramburu bricht mit vielen stilistischen Traditionen des Genres. Ja, er erzählt von Familie (genauer von zwei Familien) und Familienbande, von Schicksal und eigener Verantwortung, aber mit seiner achronologen Dramaturgie des Romans mit ihren kurzen Kapiteln aus jeweils wechselnder Erzählperspektive hat Aramburu ein formales Gerüst geschaffen, das seine unglaublich sympathischen und glaubwürdigen Figuren mit sehr viel baskischem Leben füllen. Man folgt diesen Menschen gern und mit zunehmender Neugier, möchte wissen, wie es ihnen ergangen ist und wie sie fühlen. So erklärt Patria, wie der Terror der ETA die baskische Gesellschaft gespaltet und verletzt hat und wie er bis heute nachwirkt und schmerzt. So sollte Geschichte von unten immer erzählt werden.
Ian McGuire – Nordwasser :: »Sehet den Menschen!« Ecce homo: Mit archaisch-biblischen Worten hebt die Geschichte an und erzählt von der Nordmeerfahrt eines Walfängers, die katastrophal endet. McGuire stützt sich auf große Vorbilder wie Melville, Conrad, Poe und London, aber raubt in seiner Aneignung den bekannten Stoffen jegliche geheuchelte Metaphysik. Das Böse wird hier ästhetisiert und überhöht, aber nicht verdammt. Weil es im Menschen steckt, wird es vorgeführt. Wider die Tradition seiner Vorbilder erzählt McGuire im Präsenz, schnörkellos und hyperrealistisch. Die Story rollt ab wie ein Tarantino-Film, strotzt vor physischer Gewalt, ist blutig, stinkend. Milde Metaphorik kennt dieser Roman nicht. Die Symbolik steckt im Offensichtlichen. Hier wird nur gesagt, was ist. Punkt. Die Mannschaft: lebende Tote. Das Schiff: dem Untergang geweiht. Der Walfang: ein sterbendes Geschäft. Die Fahrt: ein großer Betrug! Am Ende sind nahezu alle gestorben. Das Eis, der arktische Himmel, das Meer übernehmen die Macht. Der Mensch fürchtet das Schicksal, die Natur nicht. Sie kennt weder gut, noch böse, sie ist einfach nur da. »Nordwasser« ist ein abgründiger Geniestreich und kalkulierter Fausthieb, rast als tiefsinniger Trip ungebremst seinem Finale zu. Großartig! Und großartig übersetzt von Joachim Körber. (Link zur ausführlichen Besprechung)
Steffen Mensching – Schermanns Augen :: In einem sowjetischen Straflager im Nirgendwo bei Archangelsk trifft Otto Haferkorn, ein deutscher Kommunist und Drucker, der vor den Nazis nach Moskau geflohen ist, auf den Graphologen Rafael Schermann. Der Mann ist berühmt, weil er aus der Handschrift einer Person ihren Charakter und ihr Schicksal herauslesen und deuten kann. Aber weil Schermann auch polnischer Jude ist, endet im Dritten Reich seine Karriere. Seher oder Scharlatan? Diese Frage steht im Zentrum der Verhöre Schermanns, bei denen Otto als Übersetzer Schermann zur Seite steht. Von der harten Lagerarbeit befreit, beginnen beide bald, sich ihr bewegtes Leben zu erzählen und damit die Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts, von Kommunismus und Faschismus, von Widerstand und Verfolgung. Stilistisch und strukturell wagt Steffen Mensching viel: keine Absätze, wechselnde Perspektiven, keine Auszeichnung wörtlicher Rede. Doch weil Mensching das literarische Handwerk meisterhaft beherrscht, funkelt und strahlt der Text über 800 Seiten hinweg; zu keiner Zeit droht er unter überwältigender Recherchelast, noch ambitioniertem Konzept zusammenzubrechen. Als Otto und Schermann in der Baracke der Verbrecher landen, wird aus dem Gulag-Roman ein bewegendes Gleichnis über die Macht der Schrift, die Wirkung der Sprache und der Kraft der Liebe.
Laszlo Krasznahorkai – Baron Wenckheims Rückkehr :: Bis Seite 30 dachte ich: »Wat is denn ditte?« – Ab Seite 31 dann nur noch: »Das ist großartig!« Baron Wenckheims Rückkehr von Lázló Krasznahorkai ist eine mit feiner und scharfer Klinge geschnittene Satire. Eine abgehängte Stadt in einem Land ohne Hoffnug erwartet einen Heilsbringer, doch der bringt nix. Krasznahorkai nimmt nicht nur Ungarn aufs Korn. Das Land steht stellvertretend für viele Staaten in Europa. Das ist ein Feuerwerk absurder Ideen und abgründiger Psychologie. Das ist sehr komisch, aber der Witz ist böse, das Lachen bleibt im Halse stecken. Stilistisch besonders: Alle Absätze, die sich mitunter über viele Seiten ziehen können, bestehen nur aus einem Satz. Zudem wechselt in jedem Absatz die Figurenperspektive. So wird Baron Wenckheims Rückkehr aus vielen Blickwinkeln betrachtet. Ich kann das nicht mit dem ungarischen Original abgleichen, aber behaupte mal forsch: Christina Viragh hat Krasznahorkais eigenwilligen und überbordenden Stil brillant und meisterhaft ins Deutsche geholt. Ich sag das selten: hier stimmt es: Weltliteratur!
Ropert Stripling (Hg.) – Verpasste Hauptwerke :: Es gibt für jedes Buch das geschrieben wurde mehrere Bücher, die nicht geschrieben wurden oder nicht geschrieben werden konnten oder sollten. Die Bibliotheken sind vollgestopft mit Wissen und wissender Fiktion, aber in den Bücherspeichern prangen auch unsichtbare Leerstellen, die Lücken der verpassten Hauptwerke. Extrem komisch und gleichzeitig sehr, sehr hintersinnig schickt Robert Stripling die LeserInnen seines Buches auf Irrwege. Er verquirlt Sein und Schein und spielt sehr gekonnt mit falschen Erwartungen und fehlerhaften Annahmen. Zum Beispiel, indem er sich als »Herausgeber« behauptet, was naturgemäß andere Leserhaltung weckt als bei einem »Autor«. Und wenn ein Buch nur aus Zitaten besteht, warum sollten die falsch sein?! Wer zitiert, lügt nicht! Oder doch?! Natürlich ist Verpasste Hauptwerke auch albern, irgendwie. Aber hinter jeder Herumalberei steckt immer auch ein bißchen Kritik an gesellschaftlichen Realitäten. So gesehen verführt Stripling seine LeserInnen, bei allem Lachen das Grübeln nicht sein zu lassen. Also: studiert Verpasste Hauptwerke, lacht und denkt dann nach!
Die wahren »Kracher« abseits belletristischer Novitäten=Fluten
Robert Musil – Werke Bd. 6 :: »Meine Zeit mit Ulrich« ist noch nicht abgelaufen. Langsamer und unregelmäßiger als ursprünglich geplant lese ich weiter Der Mann ohne Eigenschaften. Mit Band 5 und 6 der neuen, hybriden Werkausgabe im Verlag Jung & Jung liegt der Jahrhundertroman nun vollständig in einer Lesefassung vor. Musils geschliffen=elegante Prosa mit ihren verstiegenen Exkursen in Psychologie, Soziologie und Philosophie zu lesen ist purer Genuss. Manchmal wünsche ich mir, es gäbe heute AutorInnen, die so schrieben wie Musil einst. Ein Wunsch, der auf absehbare Zeit unerfüllt bleiben wird; da bin ich mir sicher.
Franz Kafka – Das Schloss :: Und noch ein Langzeitprojekt geht in die nächste Runde: »Kafka entziffern!« — Im Rahmen der wundervoll=ambitionierten, historisch=kritischen Ausgabe aller Handschriften und Manuskripte Franz Kafkas im Stroemfeld-Verlag erschien in diesem Jahr Das Schloss. Die liebste Ehefrau der Welt hat mich damit beglückt und beschenkt. Langsam und konzentriert arbeite ich mich Zeile für Zeile durch das Faksimile der Handschrift und verliere, wie schon bei Der Process, nie den Spaß daran. (Nach der bedauerlichen Insolvenz von Stroemfeld wird die Kafka-Werkausgabe nun bei Wallstein fortgeführt.)
Arno Schmidt – Der Briefwechsel mit Hans Wollschläger :: Fürwahr ein Band für Spezialisten. Aber hochspannend. Hier wandeln zwei auf verschlungenen Seitenpfaden von Nebenwegen, bestrebt Karl May für den Kanon der Hochliteratur zu retten. Genau vier Romane seien es, die ihn dazu qualifizierten, der Rest dagegen wird abgetan als vernachlässigbare Masse. Die Masse kennen wir alle, die vier hochliterarischen Romane dagegen kennt so gut wie niemand. Es sind, dies fürs Protokoll: Im Reich des silbernen Löwen III & IV und Ardistan und Dschinnistan I & II. Schmidt & Wollschläger = Lehrer & Schüler : zunächst, dann gleichwertige Partner/Gegner eines regen Schlagabtausches. Es ist hochspannend zu beobachten, wie im Laufe der Zeit die arrogante Schulmeisterherrlichkeit Schmidts und der devote Lehrlingsbückling Wollschlägers jeweils weichen. Der Briefwechsel zeigt zwei Schreibkünstler, die sich, sehr auf nickliche Wortspiele und Brillanz bedacht, einander nähern, sich austauschen und gegenseitig stützen. In Sachen Poe und Joyce vernimmt der Leser zwischen den Zeilen immer wieder überraschend=erhellendes aus den Werkstätten der Übersetzer und, in generalis, bösartig=verletzende Tiraden über »VerlegerSchufte & LeckToren«. Müßig ist, zu betonen und zu loben, was Herausgeber Giesbert Damaschke in Kommentierung und Erweiterung durch zahlreiche Dokumente und Nebenbriefwechsel geleistet hat. Dieser (lang ersehnte, tausendseitige) Briefband ist ein unschätzbares Zeitdokument. In absehbarer Zeit würdige ich ihn umfassend, versprochen!
Denn ich werde weitertüfteln im Labor der Blog=Physik. Selbst wenn es zur Lösung meines kleinen Gravitationsproblems, siehe oben, einen veritablen Einstein bräuchte, der ich nun einmal nicht bin, aufgegeben wird (noch) nicht.
Ich beende diesen (viel zu lang geratenen) Sermon nun flink mit einem flüchtig=flatterndern Jahres=End=Gruß : reisst ab, was Euch noch fehlt für den Start ins Jahr Zwanzigneunzehn. Man sieht und liest sich!!
Danken möchte ich zum Abschluss allen treuen Leserinnen und Lesern meines bescheidenen Blogs und allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Verlagen, die mich zuverlässig mit allem versorgen, was nötig ist um als Leser und Blogger zu überleben.
Der größte Dank und Respekt aber gilt allen Autorinnen und Autoren (und ihren Übersetzerinnen und Übersetzern) für ihre Geschichten und ihre Erzählkunst. Sie machen unser Leben reicher.