Dreimal Joshua Cohen und das Internet und das »Buch der Zahlen«
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Der Schriftsteller Joshua Cohen (1) hat einen Roman geschrieben, in dem ein gescheiterter Schriftsteller namens Joshua Cohen (2) den Auftrag erhält, als Ghostwriter die Biografie eines Internet- und Computermoguls namens Joshua Cohen (3) zu schreiben. Cohen (2) ist gescheitert, weil sein Roman über das Leben seiner Mutter, die den Holocaust überlebt hat, ausgerechnet am 11. September 2001 erschienen ist und in diesen Tagen niemand ein Buch über eine Holocaustüberlebende lesen will. Obendrein haben die Trümmer des World Trade Centers auch seinen Verlag begraben. Cohen (3) ist gescheitert, weil die Algorithmen, mit denen er die Kontrolle über das Internet übernommen hat, das Internet übernommen haben. Cohen (1) erzählt, warum Cohen (2) keine Biografie über Cohen (3) schreiben kann.
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Buch der Zahlen ist ein Familienroman? Ja. Buch der Zahlen ist ein Künstlerroman? Ja. Buch der Zahlen ist ein Roman über das Internet? Ja. Buch der Zahlen ist ein Roman über die Unmöglichkeit, Romane im Zeitalter des Internets zu schreiben? Ja. Buch der Zahlen ist der Versuch, einen Roman über das Internet mit Alghoritmen des Internets zu schreiben? Ja. Buch der Zahlen ist ein Buch über Religion? Ja. Buch der Zahlen ist ein Roman über den Exodus ins gelobte Land? Ja. Buch der Zahlen ist ein Enthüllungsroman? Ja. Buch der Zahlen enthüllt in Wirklichkeit nichts? Ja. Buch der Zahlen handelt von Einsen und Nullen, von »Winners and Losers«? Ja. Buch der Zahlen ist ein Krimi? Ja. Buch der Zahlen ist witzig? Ja. Buch der Zahlen ist todernst? Ja.
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Das Buch der Zahlen, Numericus, das vierte Buch Mose, sei das langweiligste Buch der Bibel, sagt Cohen (1), aber es erkläre, neben endlosen Statistiken, warum das Volk Israel 40 Jahre lang durch die Wüste irren musste; nämlich damit die Generation, die das goldene Kalb angebetet und den Sündenfall begangen habe, gestorben sei und erst die nachfolgende Generation das gelobte Land betreten könne. Die Computer und mit ihnen das Internet starteten ihren Siegeszug vor etwa 40 Jahren, die Technologiepioniere sind tot, ihre Erbengeneration betritt das gelobte Land des digitalen Überflusses. Buch der Zahlen beschreibt einen Sündenfall und seine Folgen. Nicht ohne Grund heißen die treibenden Personen Joshua (Josua), Aaron und Mo (Moses). Buch der Zahlen erzählt die Geschichte einer Epoche zwischen Genesis und Apokalypse, »a story about how story breaks down«, wie Cohen (1) es formuliert.
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Mo war der Führer. Mo, das herumirrende Genie, der rastlose Wanderer zwischen Rotlichtviertel, Spielcasino, Rancher-Einsamkeit und Hightech-Glitzerwelt, eine traurige Gestalt, die stets zugleich schafft und einreißt, siegt und scheitert, eine Figur, die jeder Leser lieben muss. Dieser Mo findet und entwickelt die Algorithmen, also jene goldenen, göttlichen Gesetze, deren Wirksamkeit die kleine Internetfirma im Hinterhof zum weltumspannenden, weltbeherrschenden Konzern wachsen und Joshua (3) zum Mogul aufsteigen läßt. Aaron ist der quirlig-durchtriebene PR-Manager und Verkaufs-Stratege. Er baut das goldene Kalb. Tetration heißt der Konzern, dessen Vorsitz Cohen (3) hält, benannt nach dem englischen Begriff für den Potenzturm, mit dem in der Mathematik Exponenten einer Potenz selbst zur Potenz werden, um gigantische Zahlen niederschreiben zu können, die in normaler Schreibweise viel zu groß wären. Der Gogol von Google grüßt und weil Tetration auch TetBooks vertreibt, das TetNet aufbaut und TetPhones verkauft, grüßt auch Apples iWorld.
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Wie Mo ist auch Joshua Cohen (3) ein irrender Wanderer. Cohen (2) hetzt dem Vorsitzenden im Jet rund um den Globus hinterher, um seine Lebensgeschichte in Gesprächen häppchenweise aufzuzeichnen. Für Cohen (3) ist die Welt die Familie, meint er, denn die Technologie hat die klassische Familie obsolet gemacht und zerstört, das Internet hat »Home Sweet Home« ein für alle Mal ausradiert. Die Liebe auch, denn Internet ist auch und vor allem Pornografie. Während Cohen (2) das aufzeichnet, zerfällt auch seine Familie, die Ehefrau läßt sich scheiden, beballert ihn mit Emails voller wirrer Vorwürfe und irrer Forderungen, die Mutter lamentiert. Für beide, den Vorsitzenden Cohen und den Schrifsteller Cohen, führt wachsende Vertraulichkeit gnadenlos ins Chaos. Was als eitle Biografie beginnt, wird zur schonungslosen Beichte, die unvermittelt abbricht, als der Vorsitzende spurlos verschwindet.
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Das Internet ist Wahrheit und Fake News zugleich. Die Macht darüber haben die Pioniere längst verloren. Das Zepter schwingen nun andere: Investoren, Geheimdienste, Regierungen, vermeintliche Aufklärer und Verschwörer. Irgendwer ist hinter den Protokollen her, die Cohen (2) von Cohens (3) Lebensbeichte aufgezeichnet hat. Auf der Frankfurter Buchmesse kommt es zum Showdown. (Das zählt zu den witzigsten und schonungslos wahrhaftigsten Passagen im Roman.) Ausgerechnet hier, wo sich die Welt des Buches verzweifelt gegen das Internet stemmt, wo sich die Menschen, die sich an die Philosophie, Psychologie und den Narzismus des 19. Jahrhunderts klammern, wo sich das Alte gegen das Neue verteidigt, die alte Religion des Print die neue Religion der Technologie fürchtet und verketzert, führt Cohen (1) seinen Roman, quasi als Parodie eines Verschwörungs- und Politthrillers, zum Höhepunkt, in dem alles explodiert und kollabiert.
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Die Anmerkungen unter den Punkten Eins bis Sechs legen nur einige Schichten von Buch der Zahlen frei; dieser Roman besteht aus noch viel mehr Sedimenten. Sie in der ersten Lektüre nicht alle zu finden, ist kein Versagen. Dieser Roman ist wie das Internet voller Sprungmarken und Verweise, man kann niemals allen gleichzeitig folgen. Sich zu verzetteln ist Teil des Programms. Buch der Zahlen will genau und kritisch gelesen werden, der Roman schlägt Schneisen durchs digitale Zeitalter.
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Cohen (1) entschädigt seine LeserInnen – wie immer – mit einem Roman, der vor Inspiration förmlich sprüht, der vom albernen Kalauer über ironische Anspielungen, aberwitzigen Wortspielen, böser Satire bis hin zu erstaunlichsten Erfindungen mehr bietet, als andere Autoren im gesamten Lebenswerk zu bieten haben. Joshua Cohen (1) ist ein unglaublich belesener und enorm kluger Autor, der seine Belesenheit und Klugheit in jedem seiner Texte vor sich her trägt. Er darf das, denn sein Witz und Humor schrecken auch vor der eigenen Eitelkeit nicht zurück. Das ist Literatur, die klug macht, während sie unterhält und unterhält, während sie uns Neues lehrt.
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Joshua Cohen (1) hat Buch der Zahlen geschrieben und Robin Detje hat den Roman ins Deutsche übersetzt. Eine Leistung, die vom Übersetzer Witz und Humor auf des Autors adäquatem Niveau verlangt, nur eben auf Deutsch. Detje hat die Herausforderung großartig gemeistert. Die Gag- und Wortspieldichte ist enorm, zahlenmäßig auf Höhe des Originals, allerdings bei Bedarf anders verteilt. Applaus, Applaus!!
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Buch der Zahlen drei- oder viermal zu lesen (oder fünfmal) macht Spaß. Denn es ist jedesmal ein neuer und anderer Roman, irgendwie. Er beginnt übrigens mit den Worten:
»If you’re reading this on a screen, fuck off!«
Roman
Aus dem Amerikanischen von Robin Detje
Gebunden, 752 Seiten
Frankfurt/M.: Schöffling & Co. 2018
Mehr Informationen und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlages
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Nach Buch der Zahlen sind die Kurzgeschichten in Vier neue Nachrichten weit weniger kryptisch.
Zu beachten sind auch die folgenden Internet-Fundstücke:
Wie das allwissende Internet uns zu Romanfiguren macht. Ein Essay von Joshua Cohen über das Erzählen in den Zeiten des unendlichen Online-Textflusses. (Die Welt)
»It’s Time That Writing Took Something Back From the Unternet.« Gideon Lewis-Kraus chattet mit Joshua Cohen. (The New Republic)
»Dust jackets on the wrong spines«: ein Email-Interview mit Joshua Cohen. (Barnes & Noble)
Hinweis: Zur Numerierung der Abschnitte wurden binäre Zahlen verwendet.