Überlebenskampf im arktischen Eis – »Nordwasser« von Ian McGuire
»Sehet den Menschen!« Ecce homo: Mit diesem archaisch-biblischen Ausruf hebt Nordwasser von Ian McGuire an. Der Roman erzählt in wuchtiger, finsterer Prosa von der Nordmeerfahrt eines englischen Walfängers am Ende des 19. Jahrhunderts.
Hauptfigur ist Patrick Sumner, alles andere als ein strahlender Held. Der drogensüchtige Militärarzt wurde unehrenhaft aus der britischen Armee entlassen und heuert als Schiffarzt auf dem finsteren Walfänger »Volunteer« an. Dort begegnet er dem Seemann Henry Drax, einem brutalen Gesellen, der ausschließlich seinen niederen Trieben und Instinkten folgt. Als das Schiff im arktischen Packeis festsitzt und sinkt, finden sich die beiden Männer als Widersacher in einem schonungslosen Überlebenskampf verstrickt. Sie führen ihn mit tödlicher Härte.
Ich hätte nie auf diesem Schiff sein sollen. Ich hätte nicht sehen sollen, was ich dort gesehen habe.
_IAN MCGUIRE : NORDWASSER
Unverkennbar stützt sich Ian McGuire auf große Vorbilder, auf unsterbliche Walfang- und Seefahrtsabenteuer von Melville, Conrad, Poe und London. Aber Nordwasser kommt nicht als bloßer Abklatsch bekannter Motive daher. McGuire raubt in seiner Aneignung den vertrauten Stoffen jegliche geheuchelte Metaphysik oder Moral. Hier begehen verabscheuungswürdige Menschen verabscheuungswürdige Taten, vergehen sich an ihren Mitmenschen, auch an Kindern, an der Natur, an Tieren und an sich selbst. Der Text ist brutal und schonungslos. Er ästhetisiert und überhöht das Böse, aber weder beschönigt er, noch verdammt er es. Das Böse ist einfach da; es steckt halt drin im Menschen.
Die Mannschaft: lebende Tote. Das Schiff: dem Untergang geweiht. Der Walfang: ein sterbendes Geschäft. Die Fahrt: ein großer Betrug. Am Ende: alle gestorben, nahezu alle. Das Eis, der arktische Himmel, das Meer übernehmen die Macht. Der Mensch fürchtet das Schicksal, die Natur fürchtet nichts. Sie kennt weder gut, noch böse, sie ist einfach nur da. Ewig und erhaben. Die Natur bleibt Sieger.
Wider die Tradition seiner Vorbilder erzählt McGuire im Präsenz. Schnörkellos und hyperrealistisch rollt die Story ab wie in einem Tarantino-Film, sie strotzt vor physischer Gewalt, ist blutig und stinkend. Milde Metaphorik kennt dieser Roman nicht. Die Symbolik steckt im Offensichtlichen. Hier wird nur gesagt, was ist. Punkt.
Zuneigung ist etwas Vergängliches. In der Hinsicht unterscheidet sich ein Tier nicht von einem Menschen.
_IAN MCGUIRE : NORDWASSER
McGuire schildert das Ende der Epoche des Walfangs im 19. Jahrhundert, zeigt eine Welt, in der Rücksichtslosigkeit, Grausamkeit, Zerstörung und Habgier regieren. Eine Industrie geht unter und mit allen Mitteln versuchen einge, ihr Kapital und ihre Macht zu sichern. Darunter leiden die kleinen Leute, die Seefahrer und Arbeiter. Das ist sehr aktuell und macht Nordwasser zu einem abgründigen Geniestreich und kalkuliertem Fausthieb. Ungebremst rast der Roman wie in einem Trip durch menschliche und gesellschaftliche Abgründe, steuert unweigerlich auf sein drastisches Finale zu. Dieses Buch ist wahrlich nichts für Zartbesaitete, aber in seiner kaltblütigen, mitleidlosen Darstellung großartig! Und ebenso großartig übersetzt von Joachim Körber.
Aus dem Englischen von Joachim Körber
Gebunden, 304 Seiten
Hamburg: Mare Verlag 2018
Mehr Informationen und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlages
Dieser Text ist zuerst erschienen im Magazin 1-2019 der Büchergilde. Das Magazin kann als PDF hier heruntergeladen werden.
Bildnachweis: Walfänger vor Spitzbergen (The Library of Congress) | [No restrictions] | Quelle: Wikimedia Commons