Nachnominiert: »Baron Wenckheims Rückkehr« | »Miami Punk« | »Schermanns Augen«
Über einen längeren Zeitraum hinweg habe ich »lustauflesen.de« ruhen lassen. Gelesen habe ich dennoch, wie könnte ich auch anders. Deshalb richte ich Euren Blick hier auf drei Bücher, die mir in den zurückliegenden Monaten besonders gefallen haben und Euch ans Herz legen möchte. Drei ungewöhnliche Geschichten, ungewöhnlich erzählt. Sehr verschieden, aber alle sehr gut.
Lázsló Krasznahorkai »Baron Wenckheims Rückkehr« (S.Fischer Verlag)
Eine abgehängte Kleinstadt in Ungarn erwartet ihren Heilsbringer. Baron Béla Wenckheim kehrt in seinen Geburtsort zurück, in seinem Gepäck angeblich ein riesiges Vermögen. Mit diesem Reichtum hoffen die Honorationen der Stadt, ihr heruntergekommenes und verrottetes Gemeinwesen zu sanieren. Die Wahrheit lautet: der Baron ist pleite. Er kommt nur, um noch einmal seine große Jugendliebe zu treffen.
Lázló Krasznahorkai schneidet mit feiner und scharfer Klinge ein groteske Satire, die nicht nur die politischen Zustände in Ungarn aufs Korn nimmt. In jedem der mitunter viele Seiten langen Absätze erhebt eine der vielen schrägen Figuren ihre Stimme, alle hochgradig unsympathisch. Vom korrupten Bürgermeister über den zynischen Polizeichef bis hin zum dumpfen Anführer einer Nazi-Rocker-Gang. Krasznahorkai läßt sein Personal ein furioses Feuerwerk aus abgründiger Psychologie und absurden Ideen zünden.
Neben einer Politsatire ist dieser Roman auch eine tragische Liebesgeschichte, erzählt vom Verlust der Liebe, der Illusion und schließlich vom Verlust eines Menschens. Der Baron tritt ab und statt seiner holt sich der Teufel die Stadt. Statt Erlösung droht Untergang. Christina Viragh hat Krasznahorkais luzide Romangroteske meisterhaft ins Deutsche geholt. Das ist wahrhaftig Weltliteratur!
Roman
Aus dem Ungarischen von Christina Viragh
Gebunden, 493 Seiten
Frankfurt/M.: S.Fischer 2018
Mehr Informationen und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlages
Juan S. Guse: »Miami Punk« (S. Fischer Verlag)
Über Nacht ist vor Miami der Ozean verschwunden. Gestrandete Kreuzfahrt- und Kriegsschiffe rosten vor sich hin, der Hafen liegt am Boden, die Hotels verfallen und die bunte Dauerwerbeindustrie stellt den Betrieb ein. Vor Miami Beach breitet sich eine endlose Wüste aus, fern am Horizont das schroffe Gebirge der Bahamas. Die Stadt ist ihres Sinns beraubt, mit einem Schnipp, aber irgendwie geht das Leben weiter.
Juan Guse schickt in »Miami Punk«, seinem ambitionierten und auch ein wenig größenwahnsinnigen Roman, eine bunte Truppe von Protagonisten auf die Suche nach Erklärung, Halt und Rettung: unter anderem eine gefeierte Indie-Game-Entwicklerin, eine strauchelnde Arbeiterfamilie, eine obskure Sekte und eine E-Sport-Mannschaft aus Wuppertal.
»Ich habe viel von David Foster Wallace gelernt«, bekennt Juan S. Guse und macht doch sein ganz eigenes Ding. »Miami Punk« steckt voller absurder Ideen, abgründiger Kulissen, und gleichermaßen tieftrauriger wie urkomischer Figuren. Wie ein aberwitziges Computerspiel intensiviert und überspitzt der Roman unsere Realität, behandelt den gegenwärtigen Status von Macht und Herrschaft und die Bedeutung von Arbeit und Alltag. Das Besondere: bei aller Klaustrophobie, Verzweiflung und Ausweglosigkeit steckt in »Miami Punk« doch viel Hoffnung und Liebe.
Roman
Gebunden, 640 Seiten
Frankfurt/M.: S. Fischer 2019
Mehr Informationen und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlages
Steffen Mensching »Schermanns Augen« (Wallstein Verlag)
In einem sowjetischen Straflager im Nirgendwo bei Archangelsk trifft Otto Haferkorn, ein deutscher Kommunist und Drucker, der vor den Nazis nach Moskau geflohen ist, auf den Graphologen Rafael Schermann. Der Mann ist berühmt, weil er aus der Handschrift einer Person ihren Charakter und ihr Schicksal herauslesen und deuten kann. Aber weil Schermann auch polnischer Jude ist, endet im Dritten Reich seine Karriere.
Seher oder Scharlatan? Diese Frage steht im Zentrum der Verhöre Schermanns, bei denen Otto als Übersetzer Schermann zur Seite steht. Von der harten Lagerarbeit befreit, beginnen beide bald, sich ihr bewegtes Leben zu erzählen und damit die Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts, von Kommunismus und Faschismus, von Widerstand und Verfolgung.
Stilistisch und strukturell wagt Steffen Mensching viel: keine Absätze, wechselnde Perspektiven, keine Auszeichnung wörtlicher Rede. Doch Mensching ist ein meisterhafter Handwerker. So funkelt und strahlt der Text über 800 Seiten hinweg, ohne je unter überwältigender Recherchelast, noch ambitioniertem Konzept zusammenzubrechen.
Als Otto und Schermann in der Baracke der Verbrecher landen, wird aus dem Gulag-Roman ein bewegendes Gleichnis über die Macht der Schrift, die Wirkung der Sprache und der Kraft der Liebe.
Roman
Gebunden, 820 Seiten
Göttingen: Wallstein 2018
Mehr Informationen und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlages
Die drei Kurzbesprechungen sind zuvor erschienen in der Rubrik »Lesbar« der Tageszeitung »Lëtzebuerger Journal«