Kafka entziffern – »Der Process« in der Handschrift
Franz Kafka hat Geburtstag, hätte Geburtstag, wäre er noch unter uns. 132 Jahre alt wäre er heute geworden. Eine rauschende Party, wild und ungezügelt, wäre ihm unangenehm und er würde die Feier vorschnell verlassen, ohne Abschiedsworte, still und nachdenklich, wie immer. Kafka feiern, nur wie? Mit Kafka vielleicht? Kafka lesen, ja warum nicht! Ich nehme Der Process, jenen Roman, den er vor gut 100 Jahren aufgegeben und unfertig in die Schublade verbannt hat.
wieder zu schreiben versucht, fast nutzlos.
Tagebuch 29. Januar 1915
In gänzlicher Hilflosigkeit kaum 2 Seiten geschrieben.
Tagebuch 1. September 1914
Vollständige Stockung. Endlose Quälereien.
Tagebuch 7. Februar 1915
Natürlich habe ich Der Process zuvor bereits gelesen, mehrmals sogar, in der Schule, in der Universität und zuhause, immer mit Vergnügen. Diesmal allerdings ist es eine besondere Ausgabe, nämlich das Faksimile der Handschrift. Sie beschäftigt mich, seit ich die prächtige Ausgabe als Geschenk der liebsten Ehefrau der Welt auf dem weihnachtlichen Gabentisch vorgefunden habe, als Präsent mitten ins Herz des bibliophilen Literaturliebhabers. Später mehr zur Idee und zur Ideologie hinter der Edition, die Roland Reuß unter Mitarbeit von Peter Staengle im Stroemfeld Verlag publiziert hat.
Jemand musste Josef K. verläumdet haben …
Das Faksimile der Handschrift in Originalgröße, Vorder- und Rückseite jeweils auf einem Blatt, penibel eingescannt, so daß die jeweiligen Gegenseiten deckungsgenau durchschimmern. Rechts und links daneben die diplomatische Umschrift. Alle Streichungen, Verbesserungen, spontane und nachträgliche Einfügungen werden kenntlich gemacht. Kafkas Handschrift, er schreibt mit einer Stahlfeder und Tinte (gelegentlich auch mit Bleistift) in Quarthefte, läßt sich verhältnismäßig mühelos entziffern, so der erste, überraschende Eindruck. Doch immer wieder stockt der Lesefluss, der, ohnehin eher gemächlich tröpfelt als strömt, immer dem auf dem Blatt gleitenden Finger folgend. Das erhöht die Konzentration.
Man kann aus einer Handschrift wie der des »Process«, in der es im Großen und Kleinen drunter und drüber geht, nicht einfach ein Buch machen.
(Roland Reuß im Beiheft zur Edition)
Der präzise, klare Satzbau Kafkas beeindruckt. Seine Wortwahl ist sicher und Streichungen sind verhältnismäßig selten. Anders als in einer gesetzten und gedruckten Fassung, werden in der Handschrift Kafkas redaktionelle Eingriffe aber nicht verschleiert. Was gestrichen wurde, bleibt sichtbar und Hemmungen, Rückläufe, Repetitionen im Schreibvorgang werden offengelegt. Es ist wie ein verstohlener Blick über die Schulter des Schriftstellers bei der Arbeit. Ich kann in der Größe der Schrift, dem Schwung der Zeilen erkennen, wann Kafka schnell geschrieben hat und wann die Worte langsam kamen; nämlich immer dann, wenn die Schrift klein und zittrig wird und die Zeilenabstände enger. Ich komme mir beim Lesen manchmal vor wie ein Eindringling, der heimlich in einem Werk im Entstehen blättert und liest, obwohl der Autor das nicht will. Heimlich, wie ein Dieb, habe ich die Texte aus der Schublade hervorgekramt, in die Kafka sie gerammt hat, um sie dem neugierigen Blick der Nachwelt für immer zu entziehen zu entziehen.
Der Text gibt keinesfalls vor, bruchlos und linear zu sein, wie dies etwa eine gedruckte Fassung suggeriert, die als Buch Kontinuität und Folgerichtigkeit behauptet. Im Falle von Kafkas Der Process ist das emminent wichtig, denn der Schriftsteller hat seinen Romanentwurf ohne konsequente Schlussredaktion abgebrochen, keine lineare Endfassung angedeutet. Das führt zu komplexen Fragestellungen bereits auf der Mikroebene der Einzelsätze des Textes und wird zum großen Problem auf der Makroebene der Kapitelstruktur. Kafka wollte einen Roman schreiben, aber er hat die Arbeit daran zu einem Zeitpunkt aufgegeben, an dem nicht einmal der Umriß feststand. Was bleibt sind Konvolute aus einzelnen Textpassagen, mehr oder weniger vollendete und gänzlich unvollendete. Daraus eine verbindliche Reihenfolge zu (re)konstruieren hat von jeher die Kritik und die Herausgeber gereizt. Doch alle beschrittenen Wege führten (und führen auch künftig, so Reuß) ins Dilemma.
Wenn Euch literaturwissenschaftliche Exkursionen langweilen sollten, springt gleich ans Ende zum Fazit.
Process, Proceß, Prozess – Das Kafka-Dilemma
Das Buch auf dem Foto symbolisiert das Kafka-Dilemma aufs trefflichste. Der S.-Fischer Verlag, »selbsternannte und trutzig behauptete« Heimstadt Kafkas, veröffentlichte 2007 den Text der von Malcolm Paisley erarbeiteten Kritischen Ausgabe von 1990. Ausgelassen sind darin sechs von Paisley als unvollendet bezeichnete Abschnitte. Paisley, das soll nicht verschwiegen werden und ist auch wenig überraschend, war nicht der erste, der der Kafkas Process-Fragmente zu sortieren und zu ordnen versuchte. Am Beginn der langen Editoren-Reihe steht natürlich Kafkas Freund und Verleger Max Brod. Doch schon bei der Schreibweise des Titels gehen die Probleme los. S. Fischer gibt vor, das Cover der Paisley-Ausgabe sei dem der von Brod besorgten Erstausgabe von 1925 nachempfunden. Das stimmt nicht. Ein wenig liegt die Vermutung nahe, dass hier Differenzen zwischen der Handschrift, der Erstausgabe und der Paisley-Edition weginterpretiert werden sollen. Denn Paisley nutzt durchgehend die Schreibweise Proceß und verharmlost die »Ersetzung der (im Manuskript durchgehenden) ss-Schreibung durch ß, wo dies der heutigen Regelung entspricht« als eine »stillschweigende Normalisierung«. Vorzugeben, dem Leser einen Text nach der Handschrift zu liefern, aber gleichzeitig die dort nirgends zu findende Schreibweise Proceß zu propagieren, ist schon eine Art Schelmenstück; Kafka nutzt ohne Ausnahme »ss« in lateinischer Schreibschrift.
Das Verwirrspiel der Buchstabenfuchser und Editeure hat Thomas Anz in einem Artikel für literaturkritik.de spitzfindig so kommentiert:
Damit hat Roland Reuß im eigenen Nachwort seine philologische Not. Gleich auf der ersten Seite sieht sich der Leser mit „Prozess“, „Prozeß“ und „Process“ konfrontiert. Was dem Laien irrwitzig erscheinen mag, hat freilich professionelle Methode. Im Falle eines bedeutenden Autors ist dem Editionsphilologen in theologischer Tradition jedes Schriftzeichen heilig, zuweilen heiliger als dem Autor selbst.
(Thomas Anz)
Rückendeckung für S.Fischer? Oder sollen hier im Germanisten-Gerangel bloß Reviere markiert werden? Ich lass das mal so stehen. Tatsächlich stand auf dem Titel der Nachlassausgabe von Max Brod, die im Berliner Verlag Die Schmiede erschien und vom damals renommierten Buchkünstler Georg Salter gestaltet wurde, Der Prozess. Als Supplement der Historisch-Kritischen Franz Kafka-Ausgabe, liegt inzwischen auch ein »getreues Faksimile« der Erstausgabe von 1925 vor (hier der Verweis zur Verlagsseite). Roland Reuß und die Verantwortlichen im S.Fischer Verlag haben das alles nochmals in Ruhe besprochen und diskutiert. Ergebnis: die Sache mit dem »nicht ganz korrektem« Faksimile-Cover wurde eingesehen, Kriegsbeile, so sie den je wirklich geschwungen wurden, wieder vergraben. Alles gut!
In der FKA bietet Reuß dem Leser den ganzen Text, ungekürzt, Konvolut für Konvolut. Doch sind damit neben der richtigen Schreibweise des Titels nun auch alle anderen Probleme schlagartig gelöst? Keineswegs, sagt Micha H. Haarkötter in seiner Besprechung in der TAZ vom 9. 12. 1997:
Nicht weniger als den gordischen Knoten der Kafka-Forschung durchschlagen will er mit seiner Edition, drunter macht er es nicht. Dabei wählt Reuß nicht den elegantesten, aber den bequemsten Weg der Problemlösung: Er geht Problemen aus dem Weg. Am augenfälligsten ist dies bei der Frage nach der Reihenfolge der einzelnen Kapitel: Der Frankfurter „Process“ hat keine! Er kommt in einer kiloschweren Kassette in 16 einzelnen Konvoluten, denn, so Reuß, man nehme „dem mündigen Leser damit nicht die beschwerliche, zugleich aber auch freudvolle Arbeit ab, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie alles hätte werden können“.
Auch Reuß versucht, mit detektivischer Akribie eine mögliche Reihenfolge abzuleiten, orientiert sich dabei aber primär an (mögliche) Zeiten der Niederschrift und an der Herkunft und der Beschaffenheit des Papiers der einzelnen Konvolute, für die Kafka aus verschiedenen Quartheften Lagen und Einzelseiten herausgetrennt hat. Nun begebenen wir uns endgültig auf sehr abgelegenes Gebiet für Spezialisten. Ich setzte hier ein Stoppzeichen und verweise alle, die sich ehrlich für die philologischen Details interessieren an Herrn Reuß:
1.) Lesen was gestrichen wurde Für eine kritische Kafka Ausgabe (Link zum PDF-Download)
2.) Zur kritischen Edition von »Der Process“ im Rahmen der Historisch-Kritischen Franz Kafka Ausgabe (Link zum PDF-Download)
3.) Weitere Infos bei Institut für Textkritik – Die historisch-kritische Franz Kafka-Ausgabe (FKA).
Das hehre Projekt der FKA hat nach vielfach applaudiertem Auftakt etwas das Tempo gedrosselt. Ein Grund, so könnte angenommen werden, seien möglicherweise die langwierigen Rechtstreitigkeiten zwischen dem Literaturarchiv Marbach und der Universität von Jerusalem, repektive dem Staat Israel, um Besitzrechte am Kafka-Nachlass. (Die Presse stürzt sich gerne darauf , so etwa DER SPIEGEL, 23/1998 „Faustschlag auf den Schädel“ und DIE ZEIT, 48/2009 „Wem gehört Kafka?“ ) Doch diese »externen Schwierigkeiten« sind es nicht, die das Erscheinen eines weiteren großen Bandes der FKA verzögern, erklärt Reuß.
Wenn Sie »Das Schloss« als zweiten größeren Romanentwurf edieren, brauchen Sie einfach Zeit. Das sind ca. 800 Seiten Handschriften, wenn das zuverlässig transkribiert werden soll, dauert das halt ein wenig.
Ruine oder Torso? – Ein Fazit
Jenseits aller literaturwissenschaftlicher Implikationen und Problemstellungen, die Lektüre der Handschrift ist ein enormes Vergnügen. Die erzwunge Langsamkeit schärft den Blick für die Feinheiten des Textes, legt die Struktur der Sprache frei, betont das Kafkaeske im Text, die schicksalhafte Ausweglosigkeit, die Brillanz der Dialoge. Und, das ist nicht minder essentiell, beim langsamen Lesen treten auch die humoristischen Elemente und der beinahe absurde Witz klarer zutage. Hinzu kommt das kreative Spiel mit der Reihenfolge der Konvolute. Die Hefte durcheinanderzuwürfeln führt keineswegs zu zwangsläufig logischen Abfolgen, aber führt zu interessanten Kombinationen.
Ein Werk, so rätselhaft wie sein Autor, und selbst die 2.000 Doktorarbeiten über Kafka konnten die Geheimnisse nicht lüften, vor denen schon der Protagonist Josef K. kapitulieren mußte. Kafkaesk, fürwahr.
(Micha H. Haarkötter)
Kafka hat versucht, bei der Niederschrift der ersten Skizzen zum Process frühere Fehler zu vermeiden. Um das Ausfasern und Wuchern des Textes wie bei vorherigen Arbeiten zu verhindern, entschied er sich, den Anfang des Romans und das Ende gleichzeitig zu entwerfen und aufzuschreiben. Freilich hat auch dieser Plan nicht verhindern können, dass Der Process ebenso Fragment geblieben ist wie andere Projekte. Aber durch die von Kafka gesetzten Klammern am Anfang und am Ende ragt aus dem Trümmerberg der Textruine doch eine Art Torso hervor, zwar ohne Arme und Beine, ohne konturierte Formen, aber immerhin. Es gibt zumindest am Beginn und am Ende des Weges Markierungen.
Im Verlauf des Leseexperimentes habe ich gelernt: leichter lösen läßt sich das Rätsel um Josef K.s Verhaftung, seinen Prozeß, bei dem er nie einen Richter zu Gesicht bekommt, das abschließende Todesurteil, und sein Sterben »wie ein Hund« mithilfe der Faksimileausgabe nicht. Kafka hat in seiner Handschrift keine bislang geheim gebliebenen Botschaften versteckt. K. bleibt weiter schuldlos mit Schuldgefühlen. Die Geschichte stellt weiter die Schuld und die Selbstverurteilung eines sich der Gemeinschaftsaufgaben Entziehnenden dar. Und möglicherweise besteht seine Schuld weiterhin nur darin, in Unkenntnis der Gesetze, der Regeln zu leben. Auch im sorgfältigen Studium der Handschrift, im langsamen Entziffern der Kritzel, Krakel und Zeichen läßt sich der gültige Interpretationsansatz nicht finden, eine schlüssige Erklärung schon gar nicht. »Es war als sollte die Scham ihn überleben.«
Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch?
(Franz Kafka)
Der Process bleibt ein Rätsel; bleibt ein Leseabenteuer, ein Schlag auf den Schädel. Ist das nicht wunderbar.
Historisch-kritische Ausgabe
16 einzeln geheftete Entwurfskapitel und CD-Rom mit 300 Handschriftenfaksimiles
In einem Schuber, zus. 750 Seiten
Frankfurt/M.: Stroemfeld 1997
Mehr Informationen zur Franz-Kafka-Ausgabe (FKA) auf der Webseite des Verlages
Kafka hören
Der Bayerische Rundfunk hat die historisch-kritische Ausgabe zur Grundlage eines Hörspiels gemacht. Katherina Agatos, Herbert Kapfert und Klaus Buhlert, avangardistische Taskforce und kreatives Superhelden-Trio des BR, haben damit einmal mehr bewiesen, wie Gebühren-Euros bei öffentlich-rechtlichen Sendern bestens angelegt werden können. Die Produktion Der Process wurde vielstimmig hymnisch gefeiert (z.B. in FAZ, 29. 12. 2010 „So haben wir Kafka nie gehört“). Auch ich habe schon darauf hingewiesen, vor allem auf die Möglichkeit des kostenlosen Downloads dieser und anderer Großproduktionen im Hörspielpool. Siehe: Kafka und Musil – Wortkunst für die Ohren.
(Nachtrag: 14. Februar 2016) Dieser Beitrag wurde nach der Erstveröffentlichung ergänzt und korrigiert. Roland Reuß hatte mich nach Erscheinen in einer Email auf einige sachliche Fehler aufmerksam gemacht und einigen Punkten der Darstellung widersprochen, beziehungsweise schiefe Argumentationen etwas gerade gerückt. Seine Einwürfe erschienen mir plausibel und nachvollziehbar, deshalb habe ich sie nachträglich in den Beitrag eingearbeitet.)