Fünfzehn Neue Dubliner – Joyce zu ehren
Am 15. Juni 1914, also vor 100 Jahren, brachte der Verlag Grant Richards in London ein Bändchen mit fünfzehn Kurzgeschichten heraus. Ihr Titel Dubliners, ihr Autor James Joyce. Geschrieben hatte er sie in den Jahren 1904 bis 1912 in Triest. Dubliners war das erste offensichtliche Dokument von Joyces Haßliebe zu seiner irischen Heimat und dem „schmutzigen, alten Dublin“, dem der junge Autor 1902 den Rücken gekehrt hatte. Dubliners ist ein Zyklus von kurzen Geschichten, die mit naturalistischen und symbolistischen Techniken die geistig-moralische Lähmung des Dubliner Lebens um die Jahrhundertwende zu beschreiben versucht. Es sind weniger handlungsreiche Erzählungen mit Pointen und Wendungen, denn Augenblicksbeobachtungen, in denen in kurzen Momenten das (vermeindlich) wahre Wesen von Personen und Sachen aufblitzt. 100 Jahre Dubliners haben Thomas Morris, einen gebürtigen Waliser, der seit 2005 in Dublin lebt und arbeitet, zu einem Experiment angeregt. Er lud 15 junge irische Schriftstellerinnen und Schriftsteller ein, Cover-Versionen der Original-Dubliner zu schreiben. Was in der Musik funktioniert, wo Songs im Cover erweitert, mit neuen Sinnzusammenhängen versehen und zeitgemäß neu interpretiert werden können, dachte sich Morris, muss auch in der Literatur möglich sein. Zu seiner Überraschung waren alle Autoren, die er ansprach und ihnen seinen Plan unterbreitete, sofort begeistert.

Dubliners 100 ist alles andere als eine plumpe und stumpfsinnige Nacherzählung der Originalgeschichten. Alle Beiträger, zum Teil bekannte Autoren wie Patrick McCabe oder John Boyne, zum Teil junge, bei uns noch wenig bekannte Stimmen der irischen Literaturszene, haben sich eingelassen auf eine aktuelle Konversation mit James Joyce. Geblieben sind die Titel der einzelenen kurzen Erzählungen, ergänzt mit einem kurzen Zitat aus dem Original, gewissermaßen als Motto. Doch was dann folgt, sind ganz eigene (zum Teil auch eigenwillige) Interpretationen. Es ist ein Blick auf das heutige Irland/Dublin, bei dem Joyce durchschimmert. Wie das Original sind auch die neuen Dubliner kurze Momentaufnahmen, herausgerissen aus größeren Zusammenhängen; es sind originelle Geschichten, die unmittelbar einsteigen, größere Zusammenhänge mehr erahnen lassen, als erklären und abrupt enden, des Lesers Imagination stets herausfordernd. Es sind, um beim Vergleich mit den Cover-Versionen in der Musik zu bleiben, eigenständige und dabei doch interpretierende und auf Joyces Vorlagen reagierende Texte. Dubliners 100 ist eine Würdigung des Origianls, eine Einladung Joyce zu lesen, und eine wundervolle Sammlung, die auch für sich selbst steht und besteht.

Fifteen New Stories Inspired By The Original.
Edited By Thomas Morris
Broschur, 220 Seiten Dublin: Tramp Press 2014ISNN: 978-0992817015
Selbst mit moderaten Englischkenntnissen ist Dubliner 100 zu bewältigen. Mir hat die Lektüre viel Vergnügen bereitet. Hier die vollständige Liste der Autorinnen und Autoren: John Boyne, Sam Coll, Evelyn Conlon, Michèle Forbes, Andrew Fox, Oona Frawley, John Kelly, Eimear McBride, Patrick McCabe, Belinda McKeon, Mary Morrissy, Peter Murphy, Paul Murray, Elske Rahill, and Donal Ryan.
Wer lieber hört als liest, kann sich übrigens beim Hörspielpool von Bayern 2 die Dubliner von Joyce in der Hörspielfassung von Ulrich Lampen herunterladen (auf der Einstiegsseite nach unten scrollen). Diese 10-teilige Produktion aus dem Jahr 2012 mit namhaften Sprecherinnen und Sprechern basiert auf der Übersetzung von Dieter E. Zimmer.
Foto von Isaac Weatherly von Pexels