»Ab in die Tonne!« – Suhrkamp darf Neuedition des »Ulysses« nicht ausliefern
Ärgerlich und peinlich! Der groß angekündigte »neue« Ulysses darf nicht erscheinen. Die ZEIT meldete es als erste. Die umfangreiche Revision von Hans Wollschlägers legendärer Übersetzung des Joyce’schen Jahrhundertromans bleibt den Lesern vorenthalten. Zehn Jahre lang hat ein Team um Harald Beck an dem Projekt gearbeitet, an 5.000 Stellen Änderungen und Verbesserungen vorgenommen, nun heißt es: »Alles für die Tonne!«
Es scheint, als habe der Suhrkamp Verlag schlicht vergessen, frühzeitig mit Wollschlägers Erbin Gabriele Gordon Urheberrechtsfragen sauber zu klären. Frau Gordon hat eine Veröffentlichung nun untersagt, weil die Bearbeitung »einen unzulässigen Eingriff in die Wollschläger-Ulysses-Übersetzung« darstelle. Durch 5.000, zum Teil weitreichende Korrekturen, sei das ursprüngliche Werk Wollschlägers nachhaltig verändert und beschädigt. Juristisch ist das völlig korrekt und wasserdicht, Suhrkamp-Verleger Jonathan Landgrebe spricht von »einem gescheiterten Versuch einer Werkpflege zulasten aller«. Aber peinlich ist es auch.
Wie konnte es zu diesem Verlagsskandal kommen?
Als Hans Wollschläger seine Übersetzung 1975 vorlegte, hat er selbst im Nachwort vermerkt, dass seiner Arbeit keine zuverlässige und fehlerfreie Edition des englischen Ursprungtextes zu Grunde liegt. Die Gründe dafür sind vielfältig: Joyce arbeitete sieben Jahre lang am Roman, zog in der Zeit mehrfach um, änderte und korrigierte das Manuskript ständig, hunderte verstreute Blätter existieren. Hastig bereiteten französische Setzer 1922 die Erstausgabe vor, als Fremdsprachler mussten sie Joyces krakelige Handschrift entziffern, der Autor überzog jeden Fahnenabzug mit neuen Textänderungen. So schlich sich beinahe auf jeder Seite des ersten Ulysses der Fehlerteufel ein. Folgende Ausgaben bereinigten vieles und fügten gleichzeitig neue hinzu. Gemeinsam mit dem Herausgeber Fritz Senn stützte Hans Wollschläger seine Übersetzung auf den Text von Random House, New York 1961. Doch auch diese Ulysses-Edition stellte nur eine von vielen Zwischenstufe dar. So hieß es im Nachwort der Wollschläger-Übersetzung:
Es ist denkbar, daß sie [Übersetzer und Herausgeber] in einer späteren Auflage an einzelnen Stellen zu anderen Lösungsvorschlägen als den hier gemachten gekommen sein werden.
Genau dieses Versprechen sollte die Überarbeitung einlösen. Erste Gespräche wurden 1987 geführt, aber erst 2007 willigte Hans Wollschläger ein, sich für die Revision seines Ulysses von einem Übersetzerteam zuarbeiten zu lassen. Drei Monate später verstarb er. Das Team um Harald Beck arbeitete einfach weiter, nun ohne rechtlich saubere Grundlage, weil (in der irrigen Annahme, die Einwilligung Wollschlägers gelte auch posthum,) mit den Erben nicht geredet oder gar neu verhandelt wurde.
5.000 Korrekturen – Sind das zuviele?
Am Ende wurde Wollschlägers Ulysses 5.000 Mal verbessert. Warum so viele Eingriffe? Ist Wollschlägers Übersetzung doch nicht so genial, wie bislang gepriesen? Nein! Die Crux steckt im Kernproblem aller Übersetzerarbeit. Einerseits gilt es, das Original zu erhalten und andererseits Klang, Rhythmus und Ton in die fremde Sprache hinüberzuretten. Harald Beck spricht in einem Beitrag im Suhrkamp-Logbuch vom »asymptotischen Handwerk des Übersetzens«. Wollschlägers Übersetzung hat große Qualitäten, legt den spielerischen Witz und die grandiose Verschrobenheit des Originaltextes offen, ist aber gerade deswegen mitunter Nachdichtung, die sich vom Original notgedrungen weit entfernt.
Zu keiner Zeit beabsichtigten Harald Beck und sein Team Wollschläger zu desavouieren, nur führten klare Prämissen am Ende zu derart weitreichenden Veränderungen, dass Gabriele Gordon das Resultat nicht akzeptieren wollte. Letztlich ging es nicht allein um die übersetzung Wollschlägers, sondern auch darum die Ergebnisse aus 40 Jahren literaturwissenschaftlicher, lexikographischer und zeitgeschichtlicher Forschung zu James Joyce in den Ulysses einfließen zu lassen. Eine Doppel-Crux gewissermaßen: in Wollschlägers Übersetzung finden sich zahlreiche Fehler, die nicht auf fehlerhaftes Arbeiten Wollschläger zurückzuführen sind, sondern auf Fehler im Ulysses-Text selbst. Dankenswerterweise hat Suhrkamp zumindest das geplante Vorwort zur sistierten Neuedition online gestellt. Es listet zahlreiche Belegstellen für die aus Sicht der Bearbeiter zwingende Änderungen auf und verteidigt sie mit plausiblen Argumenten. Für die Flut der Varianten sorgte nicht zuletzt die 1984 erschienene Ulysses-Edition von Hans Walter Gabler als Basis der Neuausgabe. Bei der Mehrheit der Joyce-Forscher gilt Gablers kritische und synoptische Edition inzwischen als Standardreferenz. Gänzlich unumstritten ist sie nicht.
Ich lese aus Becks Vorwort und weiteren Texten im Suhrkamp-Verlagsblog (hier von Harald Beck und hier von Ruth Frehner) heraus, dass akademische Präzison, philologische Genauigkeit und übersetzerischer Schöpfungsgeist in Einklang gebracht werden sollten. Ob und wie das gelungen ist, läßt sich nun leider Dank des entschiedenen Vetos Frau Gordons nicht überprüfen. Ihre wahren Beweggründe bleiben dabei nebulös. Ja, Hans Wollschlägers Übersetzung ist ein eigenständiges Kunstwerk und ja, der Eingriff in Wollschlägers Übersetzung ist gewaltig und nochmals ja, es ist nachvollziehbar, dass Frau Gordon dieses Werk schützen möchte. Aber wahr ist auch, dass Hans Wollschläger selbst seinen Ulysses nicht für fehlerfrei hielt. (Nebenbei: kein Übersetzer darf (s)eine Übertragung für final und zeitlos gültig erklären, will er ehrlich und glaubwürdig bleiben.) Eine Übersetzung stellt stets eine Annäherung dar, die gerade bei Jahrhundertwerken wie dem Ulysses regelmäßig hinterfragt und überprüft werden sollte. Hans Wollschlägers Übersetzung, liebe Frau Gordon, wäre mit der Revision keineswegs rückstandslos vernichtet, sie bleibt in mehreren Ausgaben erhalten. Gordon führt an, Wollschläger hätte der Neufassung aus literarischen und philologischen Gründen nicht zugestimmt. Das, mit Verlaub, ist ein von missgestimmten Erben gerne verwendetes Totschlagargument und selten wirklich nachvollziehbar. Wäre es bei weniger als 5.000 Änderungen anders gewesen? Wo hätte Wollschläger eine Grenze eingezogen? Wir werden es, wir können es nicht erfahren. Fakt ist: zehn Jahre akribischer Arbeit eines Teams engagierter, dem Werk Joyces verpflichteter Frauen und Männer ist zunichte gemacht und uns Lesern das eigene Urteil geraubt. Darüber tröstet auch nicht hinweg, dass Suhrkamp 200 Exemplare der Neuedition zu Forschungszwecken an wissenschaftliche Einrichtung freigibt.
Das Desaster hat sich früh abgezeichnet
Was bleibt, ist Katerstimmung. Wie konnte es zu diesem Desaster kommen? Schlamperei, Ignoranz oder bedauerliche Fehleinschätzung? Nahm der Suhrkamp-Verlag tatsächlich leichtgläubig an, ohne Einwilligung der Erben mit Wollschlägers Text machen zu dürfen, was genehm ist? Diese Fragen können nur die Verlagsleitung, die Lektoren und die Hausjuristen beantworten; bislang äußern sie lediglich allgemeines Bedauern. Dem Vernehmen nach scheiterten auch letzte Versuche von Verleger Jonathan Landgrebe und Cheflektor Raimund Feilinger mit Gabriele Gordon in konstruktive Verhandlungen zu treten. In der Neuen Zürcher Zeitung beklagt Fritz Senn, Leiter der Zürcher Joyce Stiftung und Berater der Neuedition, überdies ein veritables Kommunikationsdesater. Niemand sei im laufenden Arbeitsprozess ausreichend über die längst bekannten Rechteprobleme informiert worden. »Der Verlag habe uns hängenlassen«, so Senn, man habe alle Beteiligten einfach weiter arbeiten lassen, obwohl sich am Horizont das Desaster klar abzeichnete. Nun ist das Projekt tot.
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(Joyce: Finnegans Wake)
Am Ende bleiben mir und zahlreichen weiteren Joyce- und Wollschläger-Fans nur das 100-buchstabige Donnergrummeln aus Finnegans Wake … und die Wiederholung des eingangs Gesagten: Das alles ist sehr ärgerlich und sehr, sehr peinlich.
EDIT (6. 3. 2018): Im Interview auf Deutschlandfunk Kultur versucht Jonathan Landgrebe das Debakel zu erklären, leider nicht sonderlich überzeugend.
Korrigiert habe ich nachträglich den Vornamen von Frau Ruth Frehner, Kuratorin der Zürcher James Joyce Stiftung. Ich hatte einen falschen genannt. Entschuldigung.
Bildnachweis: Statue von James Joyce, Friedhof Fluntern, Zürich |Foto von Nicholas Hartmann | CC BY-SA 4.0] | Quelle: Wikimedia Commons