Joyce, Poe, May, Schmidt – Private Erinnerungen an Hans Wollschläger
Natürlich steht an erster Stelle Ulysses. Hans Wollschlägers Übersetzung des Jahrhundertromans erschien 1975. Vier Jahre später bekam ich sie in die Finger. Ich hatte nämlich vernommen, der Roman sei Grundstein und Gründungsdokument der Literatur der Moderne, mithin einer der wichtigsten und komplexesten Romane überhaupt. Deshalb wollte ich ihn lesen… und scheiterte im ersten Anlauf mit Pauken und Trompeten. Ich war damals 16 Jahre alt. (Erst später lernte ich: Scheitern und Irrwege gehören zu dieser Odyssee!) Erneute Anläufe glückten besser, auch Versuche das Original anzulesen folgten, und bis heute verbinde ich mit den Ton des Ulysses vornehmlich den Ton Wollschlägers.
Nach einem Vortrag an der Uni Erlangen saßen, mehr durch Zufall denn mit Vorsatz, Wollschläger, einige Kommilitonen und ich beim Bier (Wollschläger beim Rotwein) in der Kneipe. Seine Joyce-Übersetzung war nur am Rande Thema, die Arbeit daran lag weit zurück, er hatte damit längst abgeschlossen. Ausführlich sprachen wir dagegen über Arno Schmidt, weil der Haffmans Verlag (Wikipedia-Artikel) kurz zuvor in Zusammenarbeit mit der Arno Schmidt Stiftung die erste Zürcher Kassette herausgegeben und eine längst überfällige Rennaisance Schmidts (auch in der Literaturwissenschaft) eingeleitet hatte. Dass er ein »Schüler« des »Lehrers« Schmidts gewesen sei, verneinte Wollschläger, dass Schmidt als Förderer wichtige Anstöße auf dem Weg als Schriftsteller und Übersetzer gegeben habe, ein »geistiger Vater« vieler seiner Arbeiten gewesen sei, verleugnete er nicht. Dennoch sei die Arbeit an der großen Ausgabe der Werke Edgar Allen Poes im Walter Verlag (Wikipedia-Artikel) ohne vertiefenden Austausch gelaufen; jeder hätte seinen Teil der Arbeit geliefert, die Texte der jeweils anderen Übersetzer zwar gelesen, aber keineswegs gegengelesen, geschweige denn redigiert oder korrigiert.
Das Resultat war die bis heute umfassenste Ausgabe der Werke Edgar Allen Poes in deutscher Übersetzung und damit, bei aller berechtigten Kritik vor allem an Arno Schmidts eigenwilliger und sich weit vom Original entfernender Übertragung, Standard für deutschsprachige Leser.
Leider nicht gefragt haben wir, habe ich, ob denn die Beschäftigung mit Joyce und die Übersetzung des Ulysses auf Anregung Schmidts in Angriff genommen worden sei. Schließlich ist Arno Schmidt mehrfach sehr kritisch, boshaft und harsch urteilend mit der ersten Ulysses-Übertragung von Georg Goyert, bei allem Verdienst die sie 1956 trotz aller Fehlerhaftigkeit besaß, ins Gericht gegangen. Hat Schmidt den jungen Kollegen Wollschläger, der explizit auf Vorschlag des Bargfelder Haide=Dichters ins Übersetzerkollektiv der Poe-Ausgabe geholt worden war, auch auf die Spur James Joyces gesetzt oder zumindest entscheidende Anstöße geliefert? Mag sein! Ich könnte hier nur Vermutungen anstellen.
[Exkurs] Meine Ausgabe der Poe-Werke erstand ich übrigens (erst 2014) im Bücherhaus Bargfeld, einem der schönsten, wenn auch entlegensten Antquariate der Welt. Betreiber ist Hermann Wiedenroth, er taucht weiter unten in anderem Zusammenhang erneut auf, Heimstatt ist das ehemalige Haus des Schmidt-Freundes und -Mäzens Wilhelm Michels am Rande Bargfelds. Nur einer der vielen Kreise, die sich rund um Wollschläger, Schmidt, May und Poe geschlossen haben in meinem Leben als Leser und Büchersammler. (Link: Mehr zum Besuch im Bücherhaus und Schmidt-Haus.)
Ein Jahr nach der ersten Begegnung mit Hans Wollschläger sorgte ein Bloomsday in Bamberg (»ausgerechnet Bamberg, wo es dieses gräßliche Rauchbier gibt«) für die dauerhafte Zementierung meiner Lebens-Liebe zum Ulysses. Bamberg verwandelte sich am 16. Juni 1986 in (ein oberfränkisches) Dublin. Von morgens um 8 Uhr bis tief in die Nacht wurde an verschiedenen Orten der Stadt Ulysses vorgelesen und zum Teil szenisch umgesetzt. Erzählte Zeit wurde Erzählzeit, exakt synchronisiert mit den von Joyce beschriebenen »Abenteuern« von Leopold Bloom, Stephen Dedalus, Molly und all der anderen.
Eine extreme, physische Erfahrung, elektrisierend zuerst und mit zunehmender Dauer im wahrsten Sinne ermüdend. (Der große Monolog der Molly, diese wenigen, langen Sätze ohne Punkt und Komma, von drei Frauen im Halbdunkel wechselnd vorgetragen, sickerten in den Halbschlaf und die Müdigkeit der in alten Sesseln und Sofas versunkenen Zuhörer. Ein Gedankenstrom kurz vor dem Wegdämmern, wie Joyce es intendiert hatte. Eine grandiose Erfahrung, die einfaches Lesen niemals bietet.)
Auch Wollschläger las damals einige Kapitel (seiner Übersetzung) vor. In den (seltenen und knappen) Pausen ergaben sich daher weitere (Kurz)Gespräche. Obwohl es Bloomsday war, rückte Karl May dabei in den Vordergrund. Er bereitete zu der Zeit unter anderem die große kritisch-historische Werkausgabe vor, mit Hermann Wiedenroth als Mitherausgeber und Franz Greno als Verleger und Drucker. Das Großprojekt hat, nicht zuletzt wegen massiver Editionsprobleme mehrfacher Verlagswechsel, bis heute keinen wirklichen Abschluss gefunden. (Wiedenroth war auch Mitorganisator des Bamberger Bloomsday und las ebenfalls vor. Kreise, Kreise, Kreise.)
»Eine der ganz raren Grundschriften über das Fänomen May« lautete 1965 Arno Schmidts Urteil über Hans Wollschlägers rororo-Bildmonographie zu Karl May. Mit dem Untertitel »Grundriß eines gebrochenen Lebens« bietet sie der Wallstein Verlag in der Reihe der Schriften Hans Wollschlägers in Einzelausgaben weiter an. Ein nach wie vor gewinnbringendes Bändchen, ebenso die jüngst erschienenen Texte zum Spätwerk Mays mit sehr fundierten Aufsätzen zu einer »Charakteranalyse Karl Mays«. Wollschlägers konzentrierter, leicht verschachtelter und von vielen Einschüben durchschossener Stil (mit durchaus barocken Elementen) macht die Lektüre nicht besonders leicht. Aber sie lohnt; hier wird deutlich, warum Karl May mehr als ein »Jugend- und Kolportage-Schriftsteller war«. Einige der Texte online bei der Karl-May-Gesellschaft.
May war ausführlicher Gegenstand der (überwiegend in Briefen geführten) Konversation zwischen Wollschläger und Arno Schmidt. Schmidt war begeisterter Karl-May-Leser und ebenso entschiedener Kritiker der Editions- und Herausgeberpraxis des Karl May Verlages Bamberg, bei dem wiederum Wollschläger von 1957 bis 1970 Lektor war und auch Zugang zu unveröffentlichen bzw. unbearbeiteten Schriften hatte. Im Rahmen der Bargfelder Ausgabe der Werke und Briefe Schmidts ist der Briefwechsel mit Wollschläger leider noch Desiderat. Nach Problemen bei der editorischen Vorbereitung und einem unvermeidbar gewordenen Herausgeberwechsel, kündet die Arno Schmidt Stiftung das Erscheinen nun für Herbst 2018 an. »Erwarten Sie nicht zu viel, es dreht ewig lang alles nur um Karl May«, versuchte Susanne Fischer von der Stiftung in den zurückliegenden Jahren meine wiederholten Nachfragen nach dem Band stets zu dämpfen. Aber gerade das interessiert mich.
Ebenfalls gerne gelesen habe ich Wollschlägers Texte zu Arno Schmidt. Vor allem in seiner Dankesrede zur Verleihung des ersten Arno-Schmidt-Preises 1982, verrät Wollschläger (zwischen den Zeilen) viel zum Verhältnis zu seinem »geistigen Vater«. Zugegeben, man muss schon beide mögen, um die Lektüre der Texte in Die Insel und einige andere Metaphern für Arno Schmidt zu mögen.
[Exkurs] Begonnen habe ich diese Erinnerungen an Hans Wollschläger mit Ulysses von James Joyce. Mit ihm schließe ich auch. Wie alle Übersetzungen erhebt auch die von Hans Wollschläger keineswegs den Anspruch, abschließend und setzend zu sein. Im Oktober erscheint deshalb, nach mehr als 40 Jahren, bei Suhrkamp eine Revision des Textes. Auf Grundlage der (nicht gänzlich unumstrittenen) Originaltext-Ausgabe von Hans Walter Gabler aus dem Jahr 1984 haben Harald Beck und die Kuratorinnen der Zürcher James Joyce Stiftung, Ruth Frehner und Ursula Zeiler (selbstverständlich unter Beratung des Joyce-Doyen Fritz Senn), Wollschlägers Übersetzung überarbeitet, berichtigt, geschliffen und ergänzt. Ich bin sehr gespannt auf den Vergleich von »alt« und »neu«. (Und vielleicht erfahre ich vom Herausgeber auch, warum Gabler die Grundlage der Revision ist und nicht die im englischsprachigen Raum inzwischen wieder präferierte Bodley Head Ausgabe von 1960/61.)
Hier endet nun mein (leicht geschwätziger) Artikel zu Erinnerungen an persönliche Begegnungen mit Hans Wollschläger und den darin verwobenen Reminiszenzen zu (den gemeinsamen Säulenheiligen) Joyce, Poe, May und Schmidt. Dank an alle, die bis hierher ausgehalten haben.
P.S.: Falls »Experten« ins Grübeln geraten sollten, welche Ulysses-Ausgabe Wollschläger für mich signiert hat: es handelt sich um eine (seitenidentische) Sonderausgabe des Bertelmann Clubs. Meine Mutter war damals Mitglied und ich als pekunär, klammer Schüler habe die Ersparnis einiger D-Märker gerne mitgenommen. (Die vollständige Frankfurter Ausgabe (im Foto oben) kam zusammen mit Poe ins Haus, ebenfalls erstanden bei Hermann Wiedenroth. Basarmäßiges Feilschen und Handeln war nötig, um schlussendlich für beide Werkausgaben zusammen einen sehr freundschaftlichen und überaus fairen Preis zu erzielen.)
P.P.S.: Zu meiner Schande muss ich gestehen, Wollschlägers Romane, allen voran sein Hauptwerk Herzgewächse oder Der Fall Adams nie bewältigt zu haben.