Karl May – Grundriß eines gebrochenen Lebens
Am Ende des Jahres noch eine kurze Erinnerung an Karl May. Der Todestag des Schriftstellers jährte sich 2012 zum 100. mal. Runde Jubiläen sorgen stets für einige Neuerscheinungen zum Thema. So kamen einige Biographien Karl Mays auf den Markt. Zwei möchte ich hier kurz erwähnen, wirklich empfehlen aber eine ältere. Es ist der „Grundriß eines gebrochenen Lebens“ von Hans Wollschläger. Dieses vergleichsweise schmale Bändchen halte ich nach wie vor für eine maßgebende Biographie. Viel Information in knappem Umfang.
Zwei neue Biographien knapp beschrieben
Von Rüdiger Schaper stammt „Karl May. Untertan, Hochstapler, Übermensch“ (Siedler Verlag). Eine von vielen ganz privaten Betrachtungen und Reminiszenzen des Autors durchzogene Generalabrechnung. Hier steht nicht nur das Leben Mays, mit all seinen Widersprüchen und Brüchen, im Mittelpunkt, sondern auch Nachwirkung und Mythos. Ein mitunter sehr ironischer Text in bester feullitonistischer Tradition. (Link zum Buch auf der Website des Siedler Verlages.)
Der Gemanist und stellvertetende Vorsitzende der „Karl-May-Gesellschaft e.V.“ Helmut Schmiedt hat „Karl May: oder Die Macht der Phantasie“ (C.H. Beck Verlag) beigesteuert. Eine reich bebilderte Biographie, die chronologisch und bisweilen auch hagiographisch das Leben Mays nacherzählt. Ein gut geeigneter Wegweiser für den Karl-May-Einsteiger und für die ein oder andere Neuentdeckung gut. (Link zum Buch auf der Website des C.H. Beck Verlages.)
Hans Wollschläger – Seine Biographie Karl Mays hat bis heute hohen Stellenwert
(Das Folgende ist die überarbeitete Fassung eines Artikels (erschienen 2005) aus dem alten Angebot von lustauflesen.de.)
„Eine der ganz raren Grundschriften über das Fänomen May.“ So lobte Arno Schmidt die biografische Studie zu Karl May, die Hans Wollschläger 1965 als Band 104 der rororo-Bildmonographien veröffentlichte. Wollschläger, der sich damals zu Schmidts Schülerkreis rechnen durfte und nicht ganz unbeeinflußt blieb vom Bargfelder Eremiten, schlug mit diesem Buch manchem eingefleischten Fan des sächsischen Volksschriftstellers vor den Kopf. Doch bereits wenige Jahre später galt die Schrift als eines der wichtigen Standardwerke zu May. Im Rahmen der vom Wallstein Verlag betreuten Reihe „Hans Wollschläger: Schriften in Einzelausgaben“ liegt dieses seit langem vergriffene Werk in einer – zusätzlich großzügig bebilderten – Neuausgabe wieder vor.
Grundriß eines gebrochenen Lebens
Gebunden, 296 Seiten
Göttingen: Wallstein 2004
Mehr Informationen auf der Webseite des Verlages
Der Schriftsteller May, geboren 1842 geboren und 1912 gestorben, erlebte in den 60er Jahren des vorigen Jahrhiunderts eine eigenartige Renaissance. Nicht ganz schuldlos daran war Arno Schmidt mit seinerm von Freud und der Sexualpsychologie Studie „Sitara und der Weg dorthin“. Dieses Werk darf mit Recht als eine der kuriosesten Biographien der Literaturgeschichte bezeichnet werden. Schmidt sucht, getrieben von pubertärer Verspieltheit und kindlichem Vergnügen, in allen Werken Mays unterdrückte Eros-Phantasien, homoerotische Anspielungen und „feucht-phallische Träume“. Natürlich findet er sie massenhaft, eigentlich auf jeder Seite. Eins zu Eins überträgt Schmidt das, was er an versteckten Sexualphantasien in Mays Werken findet, auf den Schriftseller selbst. Man muss schon mit dem Humor eines Tertianers gesegnet sein, um diesen Schmidtschen Rundumschlag wirklich Ernst zu nehmen.
Doch „Sitara“ war der Anstoß für viele sogenannte linke Literaten und Literaturtheoretiker, sich wieder mit May zu beschäftigen; und sei es nur aus einer Protesthaltung heraus, weil die eher konservativ geprägten May-Verfechter heftigst gegen Schmidt wetterten. Auch Wollschläger stand damals zweifelsohne unter dem Einfluß der Schmidtschen Studie, zu der er später freilich auf kritische Distanz ging, wenn er sagte, daß das Buch eher das Leben Schmidts als das von Karl May beschreibt. Wollschläger wollte Karl May in erster Linie vom verniedlichenden Image eines Jugendautors befreien. Er war der erste, der ausgehend von Mays ärmlicher Kindheit unter 13 Geschwistern und einer tristen Jugend im sächsischen Erzgebirge, das Werk des Schriftstellers untersuchte. Mays verzweifelte Suche nach (bezahlter) Arbeit, seine fruchtlose Tätigkeit als Hauslehrer und Pädagoge, seine gescheiterten Beziehungen, seine zwei Haftstrafen; all das wird von Wollschläger sorgfältig gewichtet und bewertet. Mit Kolportageromanen für diverse Periodika verdient May sein erstes Geld als Schriftsteller. Literarische Fließbandproduktionen waren das, in denen er mit zunehmender Zeit erstmals seine ausufernde Phantasie und seine literrarischen Begabungen schlagkräftig unter Beweis stellte. Je erfolgreicher er wurde, desto geschickter verwebte May die Welt seiner Bücher mit seiner eigenen. Lügen, Entstellungen, Übertreibungen und Selbstinszenierung nehmen Überhand. Immer wieder schafft er es, sein wackliges und verschachteltes Lebensgebäude – dessen steingewordene Inkarnation als Villa Shatterhand noch heute in Radebeul bei Dresden zu besichtigen ist – abzustützen und vor dem Zusammensturz zu bewahren. Diese bombastische Fassade, von der sich viele Anhänger Mays blenden ließen und die seine Gegner gleichermaßen abschreckte, reißt Wollschläger ein. Stein für Stein trägt er sie ab, um die wahren Fundamente des May’schen Schaffens freizulegen. Für das Jahr der Erstausgabe von Wollschlägers „Abriss eines gebrochenen Lebens“ gilt also die Variation eines von Adorno – freilich in anderem Zusammenhang – geprägten Satzes: Wollschläger schickt sich an, Karl May „gegen seine Liebhaber zu verteidigen“. Blickt man von heute aus zurück, dann hat diese Verteidigung Karl May sehr gut getan.
Nicht verschwiegen werden soll, dass in Arno Schmidts überschwänglichem Lob für Wollschlägers Grundriß ein Unterton mitschwingt, wie immer bei Schmidt. Zwischen den Zeilen suggeriert er, im Grunde genommen der bessere Karl-May-Kenner zu sein und er somit eigentlich der geeignetere Autor der Biographie des sächsischen Volksschriftstellers gewesen sei. Wären da nicht die vielen anderen zu verrichtenden Arbeiten …
Für eine erneute Lektüre dieser 40 Jahre alten biographischen Studie sprechen alleine schon der pointierte Stil und die eigenwillige Sprache Wollschlägers mit ihren verspielten Untertönen. Mit beinahe traumwandlerischer Sicherheit bewältigte der damals knapp dreißigjährige Wollschläger in seinem literarischen Erstling die ästhetische Aufbereitung der gewaltigen Materialberge, die er angehäuft und auf der Suche nach lohnenswerten Details akribisch durchwühlt hat. Für die Neuausgabe hat Wollschläger, der später unter anderem auch als Herausgeber der historisch-kritischen Karl May Ausgabe in Erscheinung trat (siehe unten), die Forschungsliteratur nochmals kritisch gesichtet und einem Nachwort kommentiert. In gewisser Weise faßt er hier seine beinahe vier Jahrzehnte umspannende Arbeit am „Fänomen May“ zusammen.
Bleibt nur noch die Frage, wo die Texte Mays vollständig zu finden sind? Für den eher literaturwissenschaftlich orientierten Bildschirmleser bietet sich hier die Werkausgabe der Digitalen Bibliothek an. Auf der von Hermann Wiedenroth herausgegebenen CD-ROM findet sich nahezu das komplette literarische Werk Karl Mays. Grundlage der über 70.000 Bildschirmseiten ist dabei der vorläufige Editionsplan der 1987 im Verlag von Franz Greno, Nördlingen, begonnenen, zwischendurch bei Haffmans in Zürich fortgeführten und seit 1993 im Bücherhaus in Bargfeld erscheinenden historisch-kritische Ausgabe „Karl Mays Werke“.
Bd. 77 der Digitalen Bibliothek
Herausgegeben von Hermann Wiedenroth
CD-ROM (für PC & Mac)
Berlin: Directmedia Publishing 2004
Diese Ausgabe greift dabei – je nach Überlieferungslage – auf Erstdrucke, autorisierte Nachdrucke und Ausgaben letzter Hand zurück und bietet, leider noch ohne kritischen Apparat, den bereits veröffentlichten beziehungsweise geplanten Textkorpus der Abteilungen Frühwerk, Fortsetzungsromane, Erzählungen für die Jugend, Reiseerzählungen und Spätwerk, die im gedruckten Äquivalent über 80 Bände einnehmen. Wie alle Ausgaben der Digitalen Bibliothek sind auch „Karl Mays Werke“ elektronisch im Volltext erschlossen. Das heißt umfangreiche Suchwerkzeuge ermöglichen es dem Leser, bequem umfangreiche, eigene Fundstellensammlungen anzulegen und so das Werk Mays gezielt zu erforschen. Ergänzt wird die elektronische Ausgabe um einige autobiographische Schriften, das Leseralbum (eine Photosammmlung Karl Mays mit 494 zeitgenössischen Porträtaufnahmen) sowie durch Volker Grieses Kurzbiographie „Karl May – Chronik seines Lebens“. Letztere allerdings ist verzichtbar, falls Wollschlägers „Grundriss eines gebrochenen Lebens“ zur Hand ist.
Sitara und der Weg dorthin ist selbstverständlich Teil der Bargfelder Ausgabe der Werke Arno Schmidts (Werkgruppe III, Band 2), aber auch in einer günstigen Fischer-Taschenbuchausgabe erhältlich. Für eine kurze informative Überblickslektüre reicht die.
Eine Studie über Wesen, Werk & Wirkung Karl Mays
Broschur, 400 Seiten
Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuchverlag 1998
Mehr Informationen auf der Webseite des Verlages