Sie kommen und sie holen dich – »Truggestalten« von Rudolph Herzog
Zunächst sei hier die Rede von einem Untoten. Untote existieren nicht, sagen Sie?! O doch, warum sonst hält nahezu jede Sprache der Welt ein Wort für diese Wiedergänger bereit? Also, Bruno Plischke ist ein Untoter und schuld an einem hauptstädtischen Disaster gewaltigen Ausmaßes. Plischke sorgt nämlich dafür, dass der Großflughafen BER bislang nicht in Betrieb gehen konnte und auch, so sieht es aus, niemals in Betrieb gehen wird. Die Gründe für seine Sabotage seien an dieser Stelle nicht verraten. Lesen Sie stattdessen sofort die schaurig=schönen Truggestalten von Rudolph Herzog. Sie enthüllen Plischkes dunkles Geheimnis und einige weitere mehr.
Rudolph Herzog hat sich in seinem literarischen Debüt eines Genres angenommen, das in der deutschen Gegenwartsliteratur ein eher abschätzig belächeltes Schattendasein fristet, der Schauergeschichte. Er haucht ihm frisches Leben ein. Schauplatz ist Berlin. In das Leben moderner Großstädter bricht etwas Dunkles ein, Schatten der Vergangenheit. Die Protagonisten sind typische Vertreter des neuberliner Geistes. Alle sind irgendwie schick, hipp, erfolgreich und alle ein wenig egozentriert. Das Leben läuft, wie es läuft, Anlässe nachzudenken und in sich zu gehen, umkurven diese Menschen traumwandlerisch sicher. Das ändert sich erst, als etwas an sie heranschleicht, sich ihnen an die Versen heftet und Blütenträume zu Albträumen mutieren läßt.
Truggestalten versammelt sieben Geschichten, in denen die Vergangenheit in die Gegenwart greift. Berlin ist reich an Vergangenheit und viele Kapitel dieser Vergangenheit sind düster. Das gleißende Licht der Metropole überstrahlt die dunklen Flecken, wertsteigerndes Betongold und Ignoranz verschütten alte Spuren. Kapitalisten, Investment-Haie und Gestalter neoliberaler Glitzerwelten ignorieren das gekonnt. Doch Schatten und Schuld lassen sich nicht dauerhaft verdrängen. Sie kehren wieder und halten den Figuren im Buch einen Spiegel vor deren Verfehlungen. Ob sie daraus Lehren ziehen? Nun, ja!
So metaphysisch wie das klingt, ist das bei Rudolph Herzog aber nicht. Er erzählt straight, ohne Schnörkel und unprätentiös von gut situierten Zeitgenossen, von Menschen wie du und ich: von Startup-Unternehmern, Familien in Gated Communities, Hausbesetzern, die zu Hausbesitzern wurden, Hipstern, einsamen Neuberlinern, Nachwuchskünstlern europäischen Business-Migranten und Studenten. Sie konfrontiert Herzog in seinen Geschichten mit Zwangsarbeitern im Dritten Reich, Kämpferinnen für Frauenrecht, die im 19. Jahrhundert in Irrenanstalten gesteckt wurden, mit Leidtragenden der Gentrifizierung, Hungeropfern der Nachkriegszeit, Mauertoten und dem Ungeist der Stasi, der einfach nicht aufhört zu herumzuspuken.
Knapp und konzise kommen die Geschichten jeweils auf 40 Seiten oder weniger auf den Punkt. Präzise und mit wenigen, klaren Strichen sind die Schauplätze skizziert, die handelnden Figuren ausreichend klar konturiert. Ohne Schnickschnack stößt Herzog vor in die dunklen Kerne. Die Truggestalten (ein Begriff übrigens, den das Wörterbuch nicht kennt) platzen ansatzlos ins hier und jetzt. Der Erzähler Herzog läßt uns gruseln, ohne auf billige Effekte setzen zu müssen. Er verläßt sich auf das, was exixtiert, genauer gesagt, einst existierte, aber gerne verdrängt wird. In Truggestalten wird die Vergangenheit Berlins personifiziert, kommt in Form von Geistern, Schatten, Blutflecken, Ängsten und Albträumen ans Licht. Unterm Pflaster der Stadt liegt die Vergangenheit der Stadt und sie läßt keine Ruhe.
Herzogs Berlin-Stories, denen ihr Gewand der modernen Schauergeschichte maßgeschneidert am Leibe sitzt, sind dabei topografisch genau, laden ein zum Streifzug durch die Stadt der Gegenwart. Doch Vorsicht, hinter jeder Ecke lauern der Horror der Geschichte und tiefe Abgründe. Sicher ist nur, dass die Stadt nicht so ist wie sie scheint.
In den Geschichten von den Truggestalten verpufft der Schrecken nie iin flotten Auflösungen, die das Schattenhafte entmythologisieren oder gar als Taschenspielerei entlarven. Auch der Holzhammer bleibt im Werkzeuugkasten. Herzog vertraut dem Ungewissen, das sich in herrlichster Irrationalität jeder Kausalerklärung entzieht. So spuken Herzogs Geister dem Leser auch nach dem Zuschlagen des Buches weiter im Kopf herum. Sie erzählen eine Geschichte Berlins, die beklemmend anders von Verbrechen und verdrängter Schuld berichten. Historie ist bei Rudolph in erster Linie die Historie der kleinen Leute, der Namenlosen, derer, die große Geschichtsbücher nicht kennen oder schnell vergessen.
Zum amüsanten Grusel bei der Lektüre dieser Stories gesellt sich am Ende die Erkenntnis, dass dort wo wir leben und arbeiten, wo wir vielleicht glücklich und zufrieden sind, andere vor uns lebten und eben nicht glücklich und zufrieden waren. Überall sind Geister: nur wollen wir sie einfach nicht sehen. Truggestalten von Rudolph Herzog: Erfrischend irrational und bklemmend realistisch. Gänsehaut garantiert!
Schauergeschichten
Gebunden, 256 Seiten
Berlin: Galiani Berlin 2017
Mehr Informationen und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlages
Rudolph Herzog ist Autor und Regisseur und machte sich mit seiner Serie The Heist (2004) international einen Namen. Seither drehte er über ein Dutzend Dokumentarfilme für ARD, ZDF, arte, National Geographic und BBC. Sein Buch Heil Hitler, das Schwein ist tot! (2007) mit dem Thema Humor im Dritten Reich löste ein breites Medienecho aus, die Zeitschrift The Atlantic kürte es zu einem der Bücher des Jahres. 2014 wurde Die Atombombe im Vorgarten auf arte ausgestrahlt, Herzogs Verfilmung seines bei Galiani erschienenen Sachbuchs Der verstrahlte Westernheld (2012). Rudolph Herzog wurde 1973 geboren, er ist der Sohn des Regisseurs und Drehbuchautors Werner Herzog und der Schauspielerin und Drehbuchautorin Martje Grohmann.
Bildnachweis: Titelfoto von Sandis Helvigs | Quelle: unsplash.com