Ein Lob auf die Unvernunft der Kunst – »Kassel: eine Fiktion« von Enrique Vila-Matas
Alle fünf Jahre pilgern Künstler und Kunstbetrachter zur documenta nach Kassel. 100 Tage lang lockt sie ein temporäres Museum der künstlerischen Avantgarde in die hessische Provinz. Just vor der documenta 14 liefert Der Anderen Bibliothek einen Roman, der sich mit der vorangegangenen Ausgabe beschäftigt. Die documenta (13) galt vielen sachkundigen Beobachtern als bislang extremster Versuch, die Kunst all ihrer bisherigen Kontexte und Abhängigkeiten zu entledigen. Der spanische Schriftsteller Enrique Vila-Matas geht dem in seinem Roman Kassel: eine Fiktion nach.
Vila-Matas hat einen Hang zur Meta-Literatur und seine Texte spiegeln in erster Linie Literatur, nicht zwingend der Wirklichkeit. Aber weil Literatur, selbst die avantgardistischste, nicht umhinkommt Wirklichkeit zu spiegeln, behandeln folglich auch Vila-Matas Romane letztlich das Reale. Diesmal holt der Autor in das Refugium seiner stets mitgeführten imaginären Bibliothek die Sphäre der bildenden Kunst. Aber ist nicht Literatur auch Kunst und Kunst Literatur?
In Kassel: eine Fiktion imaginiert sich Vila Matas nach Kassel. Er soll als Writer in Residence in einem China Restaurant am äußersten Rand des Kunstparcours Platz nehmen. Warum? Er weiß es nicht, und die Kuratorinnen und ihre stets gut gelaunt lächelnden Assistentinnen verweigern Auskünfte zum tieferen Sinn der Aktion. Dem Autor vergeht folglich schnell die Lust an seiner Aufgabe im Dschings Khan, weil sich niemand für ihn und das, was er schreibt (oder zu schreiben vorgibt), interessiert. So bleibt ihm ausreichend Zeit, durch Kassel zu streifen und sich der Kunst zu nähern. Die Writers in Residence waren tatsächlich eines der verwirklichten Projekte der documenta (13) und Vila-Matas hat daran tatsächlich teilgenommen.
Vila-Matas, also der Ich-Erzähler im Roman, sieht sich auf seinen Streifzügen mit einigen wahrhaft avantgardistischen Werken konfrontiert. Arbeiten, die sich jeglicher überlieferter Ausdrucks- und Darstellungsform entziehen, wie Untitled von Pierre Huygue, das seltsam vollendet und total verrückt in einem Waldstück am Rande der Karlsaue eine Statue mit einem echten Bienenkorb als Kopf inmitten von dampfenden Komposthaufen präsentiert, um die ein lebender Hund mit pink angemaltem Bein herumstreift. Nicht weniger suggestiv ist Tino Sehgals This Variation, ein versteckt in einem Hinterhof befindlicher Raum, in dessen Finsternis die Besucher von unsichtbaren Menschen erwartet werden, die zu tanzen oder zu singen beginnen, wenn ihnen der Moment richtig erscheint. Im wahrsten Sinne des Wortes angeschoben wird Vila-Matas von Ryan Ganders The invisible Pull, einem Werk, das aus einem kräftigen Luftzug besteht, der durch einen ansonsten leeren Raum im Fridericianum, dem zentralen Ausstellungsgebäude der documenta, weht und kreist.
Es ist »die Notwendigkeit zu lernen, wie man sich sich selbst positioniert in diesen metaphorischen Außenbezirken der Außenbezirke«, die den Erzähler mehr und mehr beeindruckt. Die Kunst treibt ihre Betrachter »aus der mentalen Komfortzone«, konfrontiert ihn außerhalb Galerien und Museen mit extremen Positionen und Rätseln. Nur dort (in den Außenbezirken) und nur so (jenseits vertrauter Kunst-Erfahrung) ist sie noch wirklich innovativ. Je länger sich Vila-Matas, also der Erzähler, dieser extrem verstörenden Kunst aussetzt, desto »mehr Optimismus mit Blick auf die Kunst des Lebens« erwächst in ihm. Tatsächlich verschafft sie ihm sogar eine Art Heilung, denn die depressiven Phasen, in die er gewöhnlich allabendlich fällt, werden von einer lebenslustigen, heiteren Gemütslage verdrängt, die er ansonsten nur morgens verspürt hat.
Bei der Beschreibung der oben genannten Kunstwerke (und weiteren von Rosemarie Trockel, William Kentridge oder George Burs Miller, um nur einige zu nennen,) erweist sich Vila-Matas als ideenreicher Deuter einiger der wohl schwierigsten und esoterischsten Kunstpositionen der jüngsten Zeit. Doch niemals nimmt er den Standpunkt des restlos vorbehaltlosen Verfechters und Verteidigers zeitgenössicher Kunst ein. Behutsame Skepsis begleitet alle Begegnungen, Eindrücke und Reaktionen.
»Kassel war nicht gerade dafür bekannt, den Reigen der Logik zu tanzen«, heißt es an einer Stelle vielsagend. Auch Vila-Matas Text ist nicht stringent logisch. Gedankensprünge, Wiederholungen, Widersprüchlichkeiten schleichen sich ein. Immer wieder greift der Erzähler auf die Erzählungen anderer zurück, etwa auf Kafka, Mallarmé oder Roussel, er läßt Marcel Duchamp auftreten oder Salvador Dali. Meta-Literatur trifft Meta-Kunst. Nahezu unmöglich scheint es, die vielen Allusionen und Echos restlos aufzulösen. Als markantestes Leitmotiv dient nicht ohne Grund der McGuffin, ein erzählerisches Element also, daß die Aufmerksamkeit des Lesers auf sich ziehen soll, aber tatsächlich der Story mit keinem wirklichen Zweck dient. Und dass sich der imaginierte Enrique Vila-Matas mit der Figur Autre eine zweite Persönlichkeit, quasi einen Gegenentwurf seiner selbst, imaginiert, verkompliziert die Sache zusätzlich. Getreu dem Motto der documenta (13), »Collapse and Recovery«, pendeln auch die den Roman konstituirenden Elemente und mit ihnen die Aufmerksamkeitsspanne des Lesers permanent zwischen Zusammenbruch und Wiederaufbau.
Was (zunächst) wie eine (autobiographische) Kunstreisereportage daherkommt, ist am Ende doch das, was der Untertitel vorgibt, nämlich: eine Fiktion. Die Wirklichkeit der documenta (13) wird gebrochen und neu erfunden. Das funktioniert auch, weil die Leitung der Documenta mit dem Konzept auftraten, kein Konzept zu haben (oder haben zu wollen). Dem aufgeblähten, kunsttheoretischen Jargon, von Documentaleiterin Carolin Christov-Bakargiev und Vizekuratorin Chuz Martinez im Roman vorgetragen (und in diesem Fall alles andere als fiktiv), begegnet der Erzähler mit Ironie und Humor. Dieser Humor versetzt ihn in die Lage, ständig großartige, neue Ideen und Theorien zu entwickeln und sich gleichzeitig über sie lustig zu machen.
»Es kommt mir vor«, bemerkt der Erzähler, »als halte sich die Kunst perfekt aufrecht, nur die Welt drumherum zerfällt in Stücke« und stellt schließlich die Kasseler Kunst-Logik vollends auf den Kopf, wenn er feststellt, dass es außerhalb der komfortablen Kunstgenuss-Zone, aus die uns die Documenta-Macherinnen mit aller Macht vertreiben wollen, auch sehr gemütlich ist. Am Ende reist der Ich-Erzähler aus Kassel ab mit einer »absoluten Begeisterung für alles«, denn »Kunst war tatsächlich etwas, dass mir widerfuhr, und zwar geschah es exakt in diesem Augenblick. Und die Welt schien wieder neu, von einem unsichtbaren Schub bewegt.«
Kassel: eine Fiktion ist kein leichter Text. Er folgt in seinen inneren Strukturen und im Ablauf des Erzähltem einer konzeptuellen Linie, die der zeitgenössischer Kunst ähnlich ist. Er stört gängige Strategien der Wahrnehmung, er macht Schweres leicht und Leichtes schwer, er irritiert und schweift ab. Dieser Roman stemmt sich kraftvoll gegen jeden kommerziellen Mainstream. Vila-Matas scheint überzeugt, dass, anders als in der bildenden Kunst, auf dem Feld der Literatur die Avantgarde an Boden verloren habe, wenn nicht längst ausgerottet wurde. Dagegen schreibt er mit Macht an, manövriert sich aber mitunter in ausweglose Ecken hinein, drückt sich bisweilen selbst erzählerisch mit dem Rücken gegen die Wand. Nicht immer ist die Taktik, Logik in Unvernunft kippen zu lassen oder umgekehrt, passend und zielführend. Aber unterm Strich bleibt weit mehr Vergnügliches, als das wenige Verdrießliche kaputtmachen kann. Ob Kassel: eine Fiktion auch als Kommentar zur documenta 14 taugt, kann in den kommenden 100 Tagen überprüft werden.
Aus dem Spanischen von Petra Strien
Buchgestaltung: Lisa Neuhalfen
Gebunden, fadengeheftet, 300 Seiten
Berlin: Die Andere Bibliothek 2017 (=Bd. 388)
Mehr Informationen und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlages
Bildnachweis: Warteschlange vor dem Fridericianum in Kassel | Foto von Christos Vittoratos | CC BY-SA 3.0 | Quelle: Wikimedia Commons