Panzerstau statt Blitzkrieg – »Die Tagesordnung« von Éric Vuillard
Mit »Die Tagesordnung« beweist sich Éric Vuillard einmal mehr als Meister einer verdichteten Geschichtsschreibung. In Frankreich wird seine Art zu schreiben, mittlerweile die »Vuillard-Methode« genannt. Knapp 120 Seiten benötigt der gelernte Historiker, um den Aufstieg der Nationalsozialisten nachzuzeichnen und die Mechanismen ihrer Macht zu entlarven.
Februar 1933, unmittelbar vor der Wahl zum Reichstag, lädt Adolf Hitler die höchsten Repräsentanten der deutschen Industrie zu einem geheimen Treffen, bei dem er um Wahlkampfspenden bittet. BASF, Agfa, Siemens, Krupp, IG Farben, Allianz und Opel geben gern und reichlich, weil ihnen der Führer verspricht, das »Gespenst des Kommunismus« ein für alle Mal zu vertreiben.
Der unheilvolle Pakt von Industrie und Politik markiert den Auftakt zu einer Abfolge von Begebenheiten, die orthodoxe Historiker normalerweise als Randbeobachtungen oder nebensächliche Details in Fußnoten verstecken. Für Éric Vuillard aber stehen diese Beiläufigkeiten und das Geschehen auf Nebenschauplätzen repräsentativ für das Ganze. Sehr filmisch montiert er lose verbundene Episoden, zoomt auf Kleinigkeiten, friert Standbilder ein. »Die Tagesordnung« ist historische Nacherzählung und Roman zugleich.
Hinter das Treffen der deutschen Industrie setzt Vuillard den Anschluss Österreichs; anders als in den bekannten und inszenierten Wochenschaubildern aber nicht als Triumphmarsch, sondern als Farce. Die Panzerkolonnen bleiben vor der Grenze liegen, im endlosen Stau aus militärischem Gerät steckt Hitlers Mercedes auf dem Weg nach Wien fest. Die Menschenmassen am Wegesrand warten vergebens; die Blumen welken, die Fähnchen hängen schlaff herab.
Absurdität und Komik sind fundamentale, stilistische Mittel der »Vuillard-Methode«. Und Slapstick. Wie Hitler den österreichischen Kanzler Schuschnigg auf dem Obersalzberg zappelnd, keifend und mit wedelnden Armen zur »Aufgabe» zwingt, erinnert an Hitlerkarikaturen, wie sie nicht nur Charlie Chaplin in Der große Diktator gezeichnet hat.
Die Nazi-Führer erpressen, bluffen und täuschen, nutzen die Feigheit ihrer Gegner schamlos aus. Als seien sie gelähmt, beobachten Frankreich und England, wie eine Gruppe rechtsnationaler Spießbürger zu skrupellosen Polit-Gangstern aufsteigt. Das lethargische Ausland begreift viel zu spät, dass Hitler und seine Vasallen alle bewährten Regeln der Diplomatie und der politischen Etikette ausser Kraft setzen.
Vuillard rückt Farce und Schrecken dicht zusammen, lässt Banalität und Bosheit Hand in Hand gehen. »Die Tagesordnung« besticht durch einen pointierten und eleganten Stil, würzt Historie mit galligem Sarkasmus und vermischt munter Fakten, Mythen und Gerüchte.
»Literatur darf alles«, sagt Vuillard und präsentiert eine ebenso schockierende wie komische Version vom Aufstieg der Nationalsozialisten. Eine derart freche und frische Version, dass sie vielleicht nur ein Franzose so schreiben kann. Hitler ging unter. Aber BASF, Krupp, Siemens, Allianz, Agfa und die anderen Firmen, die ihn »nach oben finanzierten«, überlebten. Ihre Kühlschränke, Autos, Versicherungen und Filme nutzen wir heute noch. Auch das ist eine bittere Botschaft dieses Buches.
Roman
Aus dem Französischen von Nicola Denis
Gebunden, Hardcover, 128 Seiten
Berlin: Matthes & Seitz 2018
Mehr Informationen und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlages
Dieser Text erschien zuerst im Büchergilde Magazin 4-2018. (Download als PDF)
Bildnachweis: Hitlers Wagenkolonne bei der Einfahrt nach Wien, 1938 | Bundesarchiv, Bild 146-1972-028-14 | CC-BY-SA [CC BY-SA 3.0 de] | via Wikimedia Commons