Gummistiefel erforderlich – Bargfeld, Kreis Celle
Am Ziel: Bargfeld, Landkreis Celle. Ein langgezogenes Dorf; bunt zusammengewürfelt aus Bauernhöfen und Wohnhäusern, in der Mitte ein Eichenkamp, nicht wirklich als Dorfplatz zu bezeichnen. Keine Hinweise auf den großen Einwohner des Dorfes, den berühmten Schrifsteller, keine Erinnerungstafeln oder gar Denkmäler. Bargfeld=Kaff. Unter den Eichen 13, Sitz der Arno Schmidt Stiftung, ein Bungalow, eher abweisend als einladend, ein unscheinbares, winziges Türschild. Am Ziel: über 30 Jahren lang intensiver Schmidtleser gewesen; jetzt zum erstenmal in Bargfeld.
Eine schrille Türklingel, Schritte nähern sich von weit drinnen. Die Tür öffnet sich und herzlich begrüßt Bernd Rauschenbach. Die Schlüssel fürs Wohnhaus nebenan werden hervorgekramt. Es geht aufs Nachbargrundstück, ins Domizil der Schmidts. Hier also ist der Ort, die Wohnung, in der sie, zumindest in ihren ersten Bargfelder Jahren, die glücklichste Zeit ihres Lebens hatten. Am 28 November 1958 waren sie angekommen.
Das Haus liegt am NO-Ende des Ortes, d.h. auf drei Seiten frei. Der vorüberführende ‚Weg‘ nur für Bauerngefährte passierbar (Traktorenschnarren das einzig störende): bei gutem (d.h. schlechtem) Wetter Gummistiefel erforderlich. Das Grundstück liegt höher als die anderen Häuser des Ortes: auf halb Sand halb Ackerboden: sehr trocken. (…) Das Haus selbst hat einen umbauten Raum von 295 qm. Im Erdgeschoss rund 45 qm Wohnfläche; oben ließen sich leicht (durch einfache Verlegeung einer Zwischenwand aus den bereits vorhandenen 20 qm 30 machen; das heißt man könnte mit 70 bis 75 qm recht gut eingeteilten Wohnraumes rechnen.
Das Haus ist klein, hat aber angenehme Proportionen, die Tujen und Fichten ringsum schnüren es fast ein, lassen die holzverschalte Hütte in tiefe Schatten versinken, besonders an trüben Herbsttagen wie diesem. Über die Verande geht es hinein; gleich links das Arbeitszimmer. Eng ist es, man kann sich den großen, massig wirkenden Arno Schmidt in diesem kleinen Raum kaum vorstellen; den freien Platz zwischen den Regalen muss er nahezu vollständig ausgefüllt haben, für Gäste oder Gesprächspartner war da kein Platz mehr. Die Bücher in den Regalen eher nach Format geordnet als nach Autoren, Inhalten und Themen. Der Schreibtisch: einige vertraute Gegenstände fehlen, sind derzeit im Bomann Museum in Celle zu sehen; in der großen Ausstellung „Arno Schmidt 100“. Andächtiges Schweigen, nur langsam kommt ein Gespräch in Gang; Arno Schmidt hat über Wielands Schreibtisch gesagt, durch den müsse jeder anständige Schriftsteller seinen Meridian ziehen. Ähnliche Gedanken kommen hier auf, vor der schlichten Schreibplatte Schmidts.
Dann der Aufstieg ins Dachgeschoss, hier waren der Wohn- und der Schlafraum von Alice Schmidt, nachdem 1972 Schmidts Arbeitsplatz nach einem Herzinfarkt ins Erdgeschoss verlegt worden war. Fotos? Aus Pietät keine. Das hier ist Privatsache.
Nichts, beinahe nichts, wurde nach dem Tod Alice Schmidts in diesem HAus verändert. Ein merkwürdige Aura umfängt den Besucher in den engen Räumen mit den kleinen Fenstern, die kaum Licht herein lassen. Das ganze Haus scheint zu warnen; sie sind eben erst gegangen, kommen aber gleich zurück; über die Maßen verstimmt ob des ungebetenen Besuchs. Beklemmend und beeindruckend. Bescheiden und genügsam, ja, ärmlich haben sie gelebt, obwohl doch am Ende des Lebens ein gewisser Wohlstand erreicht war.
Hinter diesen Fenstern hat Arno Schmidt unter anderem „Zettel’s Traum“ geschrieben, dieses Monstrum von Buch, das gut zehn Jahre seines Lebens gefressen hat.
„Wenn ich also im strapaziödesten Keinerlei des Vokabeljätens, dem Broterwerb, dem cash-as-cash-can, befangen, nach 14 Arbeitsstunden, aufblicke – : dann ist aus dem Wälderkranz eine dunkelgrüne Rundum-Borte geworden.“
Es folgt, als eine besondere Ehre, der Einlass in das Archivgebäude, üblicherweise kein Bestandteil der Führungen. Arno Schmidt hat das massive Steinhäuschen, mit den zwei winzigen Fenstern 1977/78 errichten lassen. Ein Feuerteufel ging um im Dorf und Waldbrände sorgten zusätzlich für Panik. Die kostbaren Manuskripte und Materialsammlungen, die wertvollsten Bücher wollten sicher verwahrt werden. Hier lagert jetzt der gesamte schriftstellerische Nachlass. Bernd Rauschenbach zeigt die Niederschrift von Kaff; enge Schreibmaschinenzeilen, dünnes gelbliches Papier; unzählige Korrekturen mit Bleistift. Dazu die Sammelmappe mit Materialien, Zeitungsausschnitte, Fotos, ein Isetta-Prospekt, kleine Zeichnungen und handgemalte Land- und Mondkarten Schmidts. Ein merkwürdiges Gefühl: man meint, dem Autor plötzlich ganz nah zu sein, seine Aura zu spüren, aber das stimmt nicht; das Bild bleibt weiter verschwommen; Arno Schmidt ist immer noch ganz weit weg, versteckt sich weiter hinter seinem Werk, hinter Anekdoten und Legenden.
Am Rande des Grundstücks ein unscheinbarer Findling; ein ganz gewöhnlicher Stein, umringt von Wacholder. Darunter liegen die Urnen von Arno und Alice Schmidt. Keine Inschrift, nur ein kleiner Bund Gänseblümchen. Mit Absicht wird hier das Foto mit dem geringsten Anteil von Andacht und ehrfürchtiger Besinnung gezeigt. Lächelnd abdrehen, ins Leben zurück; „Believe me; dead Poets are not always dead.“
Eine Wanderung
… die Landschaft, wenn auch nicht ideal, so doch, vom beruflichen Standpunkt aus betrachtet, in jeder Beziehung brauchbar …
Vorbei am Badeteich, der in „Zettel’s Traum“ und in „Abend mit Goldrand“ literarisch verewigt wurde. „Der Klappendorfer Badeteich: plärrend bunt auf grün (: Du bist alles für mich, denn ich liebe nur Dich : Micaé-la-a-a), im Nachmittagslicht. Sehr warm für einen 1. Oktober (24°) … “ Die Copacabana von Bargfeld, von Alice Schmidt häufig und gern besucht (Arno Schmidt hatte wenig Neigungen zu Badevergnügen). – Nach 20 Minuten Fußmarsch ist das legendäre Schauerfeld erreicht. Ein vier Meter breiter Landstreifen, der im Rahmen von Grundstückszukäufen ebenfalls (quasi ohne es zu wollen) in den Besitz der Schmidts gekommen war. Verwildert und zugewachsen.
Also – : es mögen nun wohl an die 120 Jahre her sein; – : daß die Bauern, (angeführt und aufgehetzt vom Pastor LOCI), – hier (& dämonisierend mit dem Finger ans Holz getipp’d : ! -) – hier 1 Dichter verscharrt habin, der sie öfters beschrieb.
(Zettel’s Traum. 1. Buch: Das Schauerfeld oder Die Sprache von Tsalal)
Shopping in Bargfeld
Das Bargfelder Warenangebot ist überschaubar; eigentlich können nur Bücher erstanden werden (oder Bio-Eier und Äpfel von einem der Bauernhöfe). Erst wurde in der Stiftung einiges ausgewählt. Drei „Hefte zur Forschung“ und den schönen Tina-Comic von den Studenten der Darmstädter Hochschule für Gestaltung. Die kümmern sich im Jubiläumsjahr rührend mit wechselnden Ausstellungen und Aktionen um die Litfassäule in der Inselstrasse.
Anschließend dann zum Bücherhaus von Herrmann Wiedenroth; das ist das „Papageienhaus“, wie Schmidt es nannte, das ehemalige Wohnhaus des Freundes und Mäzens Willi Michels. (Wegen einer nichtigen Streiterei haben beide allerdings am Ende der Bargfelder Jahre kein Wort mehr miteinander gewechselt.)
Das Bücherhaus ist wohl eines der schönsten Antiquariate der Welt, und eines der einsamsten, gut 800 Meter vom Dorfrand entfernt, allein auf weiter Flur. Herr Wiedenroth, ein beinahe antiquarischer Antiquar und gemeinsam mit Hans Wollschläger Herausgeber der legendären, nie wirklich agbeschlossenen, kritisch-historischen Karl-May-Ausgabe, begrüßt herzlich und kredenzt Kaffee in stilvollen alten Tassen auf einem Silbertablett. Mit diesem Mann ins Plaudern zu kommen heißt, die Zeit fliegen zu lassen. Die Stunden vergehen im gebildeten Gespräch und beim Stöbern im hochkarätigen Sortiment. Nach zähem Ausscheidungskampf und zähnekrischender Inspektion des Portemonnaies bleiben: die „Frankfurter Ausgabe“ der Werke von James Joyce, Poes „Werke“ in der Übersetzung von Schmidt, Wollschläger u.a. (die legendäre Ausgabe im Walter-Verlag, Olten) und „Viele gemEinsame Wege – Arno Schmidt und Eberhard Schlotter“, eine umfangreiche Monographie zur Freundschaft der beiden und zur Arbeit an gemeinsamen Bildwelten.
Endlich können die billigen Paperback-Werk-Ausgaben aus Studentenzeiten ausgetauscht werden gegen „echte Bücher“. Schmidtmäßig brummelt man so vor sich hin: „Damals konnten wir uns das ja nicht leisten, wir hatten ja kein Geld, hatten nix.“
Ein langer, ereignisreicher Tag in Bargfeld geht so zu Ende. Den Kopf voller Bilder und Eindrücke, die Jute-Beutel und Plastiktaschen voller Bücher. Sehr schön war es. (Bio-Eier und Äpfel kamen diesmal nicht ins Einkaufsnetz.)
P.S.: Der berühmte Gasthof Bangemann, einst Versammlungsstätte und Basiscamp vieler Bargfeld-Pilger in den 70er Jahren, hatte übrigens geschlossen, entgegen der Information auf der Anschlagtafel mit den Öffnungszeiten. Kann man nix machen; müssen wir halt nochmal wiederkommen: irgendwann.
P.P.S: Auch sehr schön: Nebenbei den 2. Platz errungen beim inoffiziellen Wettbewerb „Grimmig schauen wie Arno S.“; auf dem Weg zum Kronsberg.