Rebhühner auseinandernehmen – »Glanz und Schatten« von Michael Fehr
Erzählungen nennt Michael Fehr die in Glanz und Schatten versammelten Prosastücke. Erzählungen sind Texte, so ein älteres Lehrbuch für Deutsche Literaturgeschichte, die »sich in ihrem Gehalt an die Wirklichkeit des Lebens anschließen und schlicht und anschaulich eine einfache Begebenheit darstellen«. In der Regel seien sie »meist kürzer und vor allem weniger „verschachtelt“ als gewöhnlich ein Roman«. Bei Fehr stimmt die Kürze, doch alles andere in seinen verrätselten Miniaturen hat mit klassischen Erzählungen nichts gemein.
Michael Fehr schert sich nicht um die Wirklichkeit des Lebens. Seine Geschichten handeln von magischen Verwandlungen und Metamorphosen, sind von Tieren bevölkerte Parabeln oder lassen Teufel und Zauberwesen auf Menschen treffen. Der Ton ist ruppig und hart.
Fehrs Erzählungen kommen ohne Punkt und Komma aus. Die Anordnung auf dem Papier verpasst ihnen Struktur und Ordnung, Zeilensprünge, Einrückungen und Leerzeilen. Optisch und stilistisch sind das eher Gedichte als Prosa, Fehr kennt keine Grenze zwischen den Formen. Man muss das laut lesen, dann beginnen die Worte und Zeilen rhythmisch zu tanzen. Klingt abgedroschen, funktioniert aber bestens.
Michael Fehr ist stark sehbehindert, deshalb schreibt er seine Texte nicht auf, sondern spricht sie in den Computer, verpasst jeder einzelnen Zeile Takt und Tempo, justiert die Schwingung der Perioden. Bevor sie gedruckt wurden, hat Fehr diese Erzählungen harten Proben unterworfen. Sie mussten sich auf der Bühne bewähren, immer wieder und mitunter im Wettstreit mit musikalischer Begleitung. Die Erzählung wird zum Song.
Michael Fehr hat den Blues im Blut und in der Stimme. Und wie der Blues sind auch seine Erzählungen dunkel grundiert. Sie sind unbehaglich und irritierend, dann wieder komisch und absurd. Einige kommen direkt und brutal wie Grimm’sche Märchen daher, andere hermetisch verschlossen wie die écriture automatique der Surrealisten mit ihren tranceartigen Repetitionen und Kreiselbewegungen. Und sie verfügen, egal ob als Monolog oder Dialog, über enorme performative Qualität.
Also
man nimmt das Rebhuhn und klemmt es zwischen
den Beinen ein
richtig fest klemmt man es ein
du könntest es natürlich auch in den Schraubstock
klemmen
dann könnt es keinen Wank mehr tun
In Glanz und Schatten werden Rebhühner fachgerecht auseinandergenommen, malt sich eine sexuell freigiebige Studentin genüßlich aus, im Alter dem Sex zu entsagen, da wird von einem Mann berichtet, der sich nichts sehnlicher als eine Frau wünscht und als sie endlich da ist, bleibt doch alles beim Alten. Da kommt der Teufel in die Stadt und niemand findet ihn schrecklich, erst als er wieder geht und alle Kinder mitnimmt, nennen sie ihn böse. Eine Schlange diskutiert mit dem Koch ihr Häuten, Zerlegen und Kochen. Der Turm zu Babel stürzt ein, sehr zur Bestürzung seines Architekten.
Wer in diesen Texten Realität und Bedeutung sucht, geht in die Irre. Fehr bewegt sich in Grauzonen der Wahrnehmung, ihm geht es nicht um Sinnstiftung und tiefe Erkenntnis. Er spielt mit Worten, er spielt mit Erwartungen, wirft alles durcheinander und über den Haufen. Welt ist bei ihm Synästesie, Anarchie und vor allem ein Nicht-Genau-Wissen. Wenn sich der Leser Glanz und Schatten mit offener Neugier nähert, wenn er sich fallen und überraschen läßt, dann gewinnt er.
Niemand in der Familie hat Fantasie
die Mutter nicht
der Vater keine
die Tochter keine Fantasie
niemand hat Potential
man lebt das Leben der Familie von früh bis spät
und nachts kommt man in den Betten der Familie
zum Erliegen
Bleibt letztlich die Frage: Wirken diese Texte nicht besser als Hörbuch oder als Song-CD? Ohne Fehrs leicht krächzender Stimme, seinem schweizerdeutschen Akzent, dem Schnauben und den Betonungen mal im, mal gegen den Schlag der Musik verpufft vieles von der Wucht und Brutalität seiner Geschichten. Deshalb sollte der Besuch einer seiner kommenden Lesungen Pflicht sein, vor allem wenn er mit Manuel Troller konzertiert. Ortstermine listet Fehrs Webseite.
Michael Fehr & Manuel Troller beim Festival »woerdz 2016« in Luzern
Im Literaturclub des Schweizer Fernsehens hat Michael Fehr zwei Geschichten aus Glanz und Schatten vorgetragen«.
Erzählungen
Broschur, fadengeheftet, 144 Seiten
Luzern: Der gesunde Menschenversand 2017
Mehr Informationen und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlages
Auch 54books empfiehlt mit Nachdruck die Lektüre von Glanz und Schatten.
Bildnachweis: Autorenporträt Michael Fehr | © Franco Tettamanti