Hybris und Dünkel führen in die Katastrophe – »Das Floß der Medusa« von Franzobel
Ein historischer Roman, ein Lehrstück über menschliches Versagen, eine Parabel über den Verlust von Normen und den Untergang der Zivilisation, ein Kommentar zur Fragilität politischer und sozialer Hierarchien, eine schonungslose Schilderung menschlicher Schwächen. Dies alles bietet Franzobel seinen Lesern. Vor allem aber ist Das Floß der Medusa ein Roman, der im Blick zurück auf ein historisches Ereignis nach vorn auf Gegenwart und Zukunft schaut. Mit seinen sicher gewählten Stilmitteln erreicht dieser Text Wirkung und Aktualität. Doch zunächst zur Story.
Eine reale Katastrophe
Im Jahr 1816 sticht die Fregatte Medusa, begleitet von drei weiteren Schiffen, vom Hafen von Rochefort aus in See. Ihr Ziel ist der Senegal. Nach dem endgültigen Untergang Napoleons und der Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongress gibt England die Verwaltung der französischen Kolonie wieder zurück an Frankreich. An Bord der Medusa befinden sich neben der üblichen Besatzung Offiziere und Soldaten für die Kolonie, der künftige Gouverneur, Julien-Desiré Schmaltz, mit seiner Familie, sowie etliche Kaufleute und Händler, die in Afrika ihr Glück suchen wollen. Das Kommando an Bord führt Hugues Duroy de Chaumarey, ein Mann der während der Revolution Frankreich verlassen hatte, unter der Herrschaft Napoleons im Exil lebte und nun unter Ludwig XVIII. wieder in Amt und Würde gehoben wurde. Das Problem, Chaumarey hatte seit 25 Jahren kein Schiff befohlen. Seinen erfahrenen Offizieren und Steuerleuten, allen voran dem Ersten Offizier Pierre Reynaud, traut er nicht. Er hält sie entweder für Anhänger Napoleons oder, noch schlimmer, für Sympathisanten der Revolution. Der verunsicherte und unfähige Kapitän folgt lieber den Einflüsterungen Antoine Richeforts, eines aufgeblasenen Wichtigtuers und Hochstaplers, der großspurig seemännische Erfahrung vorgibt ohne sie nur ansatzweise zu besitzen.
Chaumarey setzt die Medusa zielsicher auf die gefährliche Arguin Sandbank vor der Westküste Afrikas. Alle Bemühungen, das Schiff wieder frei zu bekommen scheitern. Chaos bricht aus, weil es um die Disziplin an Bord ohnehin bereits schlecht steht und weil nicht genügend Rettungsboote für die 400 Personen bereitstehen. Aus Planken, Rahen und Mastteilen wird ein Floß gezimmert, etwa 20 mal 5 Meter misst es, auf das rund 150 Menschen steigen müssen. Die Seile an denen es von den Rettungsbooten an die gar nicht so ferne Küste gezogen werden soll, werden nach wenigen Stunden gekappt.
Auf dem hoffnungslos überladenen Floß stehen die Schiffbrüchigen bis zur Hüfte im Wasser. Ohne Ruder, Segel oder Auftriebskörper treibt das Gefährt manövrierunfähig auf dem Meer, es heißt bald nur noch »die Maschine«. Bereits nach der ersten Nacht sind nur noch 84 Überlebende an Bord. Zu trinken gibt es lediglich einige Fässer Wein, kein Wasser. Einziger Proviant ist ein Sack mit in Seewasser aufgeweichtem Zwieback. Schnell stehen sich Seeleute und Soldaten als unversöhnliche Parteien gegnüber, es kommt zu nächtlichen Gefechten, ein Sturm fegt zig Männer einfach fort, das blutige Gemetzel geht weiter, Verletzte ohne Überlebenschance werden einfach von Bord geschoben, andere springen verzweifelt freiwillig hinterher, die Alkohohlvorräte werden hemmungslos geplündert, Rausch, Hallizunationen und Wahnsinn sind die Folgen. Nach einigen Tagen beginnen die ersten ihren Urin zu trinken, dann essen sie ihre Exkremente, kurz darauf die Leichen der toten Kameraden. Nach 12 Tagen schließlich sichtet ein Schiff das Floß mit 15 Lebenden, 8 der Elenden sterben wenig später an Land.
Der Bericht eines Überlebenden und ein Gemälde
Kenntnis erlangt die Welt von diesen grausigen Ereignissen durch den Bericht des jungen Schiffarztes Henry Savigny. Admiralität und Marineministerium wollen den Vorfall vertuschen, doch die Presse greift Savingys Bericht auf, der Skandal ist öffentlich. Das wiederum inspiriert den jungen Maler Théodore Géricault zu einem heute weltberühmten Gemälde. Auch dieses Bild wird zum Skandal seinerzeit im Pariser Salon. Heute hängt es im Louvre und gehört neben der Mona Lisa zu den Publikumsmagneten des Museums.

Das besondere an diesem Bild: Géricault verzichtet auf eine drastische Darstellung von Grausamkeiten. Die Betrachter wussten um die Ereignisse, in ihrer Phantasie konnten sie ausmalen, was der Künstler in seiner allegorisch-überhöten Darstellung nur angedeutet hatte. Weil das nahende Schiff am Horizont winzig und kaum wahrzunehmen ist, wird der euphorisch dargestellte Moment der Rettung gleichzeitig in Frage gestellt. Das Publikum verstand die Anspielung. Für Géricault war nicht nur die Medusa gesunken, sondern ein Staatsschiff, die Elenden Figuren auf dem Floß waren Sinnbild für ein ganzes Volk, das als Spielball von Macht und Dünkel jeglichen Halt, alle Kultur und die Vernunft verloren hatte. Das Gemälde durfte 1819 aus Rücksicht auf König und Marineführung im Pariser Salon nur mit dem Titel »Szenen eines Schiffbruchs« ausgestellt werden, den ursprüngliche Titel »Das Floß der Medusa« erhielt es erst Jahre später zurück.
Keine historische Schauergeschichte
Franzobel wäre ein törichter und vor allem langweilender Schriftsteller, erzählte er uns die Katastrophe der Medusa nur als historisches Seestück und Schauergeschichte. Natürlich stimmen die historischen Fakten, natürlich ist das auftretende Personal verbürgt, aber selbstbewußt und sicher bedient sich Franzobel in seinem Roman auch zahlreicher Freiheiten, die ein fiktionaler Text nun einmal bietet.

Er stellt den Schiffsarzt Savigny, sowie zwei erfundene Figuren, den Vollmatrosen Hosea Thomas mit seinem Papagei William Shakespeare und den Kombüsenjungen Viktor, in den Mittelpunkt. Doch die bestimmende Figur in Das Floß der Medusa ist der Erzähler. Ähnlich wie Théodore Géricault bei seinem Gemälde, setzt auch Franzobels Erzähler auf ein Gleichgewicht aus Dramatik, Distanz und stilistischer Überformung. Auch er setzt wie der Maler darauf, dass die Grausamkeit ohnehin im Kopf des Lesers steckt und lediglich angetippt werden muss. Wenn ein Matrose zu Tode gepeitscht wird, dann werden die physiologischen und psychologischen Details ohne übertriebene Emotion distanziert und sachlich beschrieben, wenn der kleine, irische Schiffsjunge über Bord geht, konzentriert sich der Erzähler schnell auf die hektischen und unkoorinierten Manöver an Bord. Der rote Schopf, der langsam am Horizont verschwindet, findet irgendwann nur noch in Nebensätzen dieser minutiösen, technischen Schilderung seemännischen Unvermögens Erwähnung. Inspiriert ist diese Erzählhaltung sicherlich auch durch den historischen Bericht des Chirurgen Savigny, der das Chaos, das aufgrund mangelnder Führung an Bord der Fregatte herrscht, sowie die unmenschliche Barbarei auf dem Floß mit der wissenschaftlichen Akribie eines beobachtenden Arztes schildert und nicht mit dem Schmerz und den Emotionen eines Mannes, der dabei war und alles selbst durchlebt hat.
Franzobels Erzähler bricht diese beobachtende Neutralität durch Ironie und einem unverkennbarem Hang zur Karikatur. Das Personal an Bord, vor allem die Adeligen und die vermeintlichen Respektspersonen, scheinen mitunter einer Farce entsprungen, geben sich skurril und komisch. Und immer wieder holt der Erzähler das Geschehen und sein agierendes Personal in unsere Zeit. Mit Einschüben wie »er hatte ein Gesicht, wie der junge Lino Ventura« oder »er ritt auf den Wellen wie ein Björn Dunkerbeck nicht besser könnte« verschiebt der Erzähler die historischen Ereignisse in die zeitliche Nähe unserer Erlebniswelt. Was zunächst irritiert, macht die historischen Ereignisse gegenwärtiger. Ähnlich versiert sind die Dialoge. Die Idome sind stimmig, variieren fein abgestuft vom blasierten Geschwätz in der Kapitänskajüte bis hinunter zum Slang in der Kombüse. Prall und deftig geht es zu und funktioniert als fein austariertes Gegengewicht zur distanzierten Beobachtung.
Franzobel schildert in Das Floß der Medusa natürlich auch Ungerheurliches und Grausames, aber er rutscht nicht ab in Splatterklischees. Künstliche Horroreffekte oder -kabinettstückchen sucht man vergebens. Das Grauen ist bei Franzobel hell ausgeleuchtet, wird nüchtern, beinahe technisch-kühl ausgebreitet. Natürlich hat der Leser Mitleid mit den Elendsfiguren auf dem Floß, natürlich verachtet er den dünkelhaften Kapitän. Doch in erster Linie fordert der Text rationale Verarbeitung und weniger sentimentales Mitgefühl. So wie er in Erzähltechnik, Sprache und inhaltlicher Gewichtung angelegt ist, gelingt ihm das bestens.
Schläft die Vernunft, erwachen die Monster
Im Verlauf der Lektüre entpuppen sich zuerst der gesellschaftliche Mikrokosmos auf der Fregatte und dann der Verlust aller humanistischen Schranken bei den Schiffbrüchigen auf dem Floß als Spiegel universeller Verhaltensweisen und somit auch als Spiegel unserer Zeit. Hybris und Eitelkeit führen zu falschen Entscheidungen und Fehleinschätzungen, niemand übernimmt Verantwortung oder stellt sich ihr. Nicht Erfahrung zählt, sondern die Gesinnung. Nicht Fähigkeit, sondern gesellschaftlicher Stand. Die politischen Umbrüche und Sprünge der damaligen Zeit hießen: Französische Revolution, Jakobiner-Diktatur, Napoleon und Restitution der Monarchie. Das französische Volk war in Folge zutiefst gespalten und verunsichert. Davon sind die Menschen auf der Medusa ein Abbild im Kleinen, somit tatsächlich eine Art Staatsschiff.
Absichtlich bleibt Franzobel in seinen Aktualsierungen vage, er überlässt es dem Leser sich auszumalen, welche historischen Abläufen im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert denen im Frankreich des frühen 19. Jahrhunderts entsprechen könnten. Doch in der Art, wie die Medusa-Katastrophe beschrieben wird, zeigt Franzobel präzise auf, wie aus radikaler Umwälzung und Verstörung, ganz gleich wann und wo sie geschehen und welcher Art sie sind, stets die selben Kompetenzprobleme, Pflichtverletzungen und Persönlichkeitsdefizite erwachsen. In der Notsituation auf dem Floß schließlich eskalieren Dünkel und Zwist mit tödlichen Folgen. Vernunft, Religion, moralische Grundsätze und Gesetz werden über Bord gespült.
Was auch immer im Einzelfall Anlass und Ursache sein sollten, die Normen unserer Zivilisation sind im Extrem extrem brüchig. Franzobels fesselnde Nacherzählung der historischen Medusa-Katastrophe zielt damit, wie rund 200 Jahre zuvor schon das Gemälde Géricaults, auf Gegenwart und Zukunft.

Roman
Gebunden, 592 Seiten
Wien: Zsolnay Verlag 2017
Mehr Informationen und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlages
Franzobel liest aus »Das Floß der Medusa« (zehnSeiten)
Bildnachweis: Théodore Géricault, »Das Floß der Medusa« (1818-1819), Musée du Louvre | Quelle: Wikimedia Commons
»Die Maschine« (Zeichnung von J. Correard, eines der Überlebenden) | [Public domain] | Quelle: Wikimedia Commons