Überleben mit Lügen und Liebe – »Das kalte Blut« von Chris Kraus
Chris Kraus mutet seinen Lesern einiges zu. Nicht nur, dass sein Roman Das kalte Blut 1.200 Seiten umfasst, auch der Inhalt hat es in sich: Verbrechen und Verrat, Lügen und Liebe. Erzählt wird das Leben von Konstantin, genannt Koja, Solm, alias Heinrich Dürer, alias Jeremias Himmelreich. Gemeinsam mit seinem Bruder Hubert, genant Hub, beide Sprößlinge ein deutsch-baltischen Adelsfamilie in Riga, tritt Koja früh in die NSDAP ein, macht Karriere als SS-Offizier im Sicherheitsdienst unter Heydrich und Himmler, setzt seine Agentenlaufbahn in der jungen Bundesrepublik im BND Reinhard Gehlens fort und ist nacheinander und gleichzeitig Doppelagent und Maulwurf des KGB, der CIA und des Mossad.
Kriegsverbrechen der SS im Baltikum, Folterungen im Keller des KGB, Nazis als Stützen der Nachkriegsdemokratie von den Amerikanern installiert, Mordkommandos des Mossad. Eine zentral Rolle übernimmt neben Koja und Hub die Adoptivschwester Eva. Während sie mit Hub verheiratet ist, hat sie ein Verhältnis mit Koja, heiratet auch ihn, nachdem sie Hubert verlassen hat. Eine verhängsvolle, lebenslange Menage á trois. Hass und Liebe, Hassliebe dominieren das Dreiecksverhältnis der Geschwister. Nach einem verhängisvoll-finalen Streit, bei dem auch Schüsse fallen, wandern Eva und Konstantin nach Israel aus, wo sie von nun an Naziverbrecher jagen und vor Gericht stellen möchte. Eva ist nämlich Tochter einer jüdischen Familie, hat sich aber einst selbst als KZ-Ärztin an Menschenversuchen beteiligt. Über allem schwebt Maja Dserschinskaja, Kojas große Liebe, »mein trauriger Engel, mein erzgleiches Glitzern einer Mine aus Unglück«. Liebe, Lüge, Leidenschaft. Kraus mutet uns, es sei wiederholt, einiges zu.
Ein Roman über Verbrechen der SS, über Völkermord, über perfideste Aktionen diverser Geheimdienste, ein Roman in dem sich die Hauptfigur der Spitzelei mit Hingabe widmet, Kunst fälscht, munter seine Tarnkappen wechselt, um zu drohen, zu schlagen und zu morden, ein Roman aus der Perspektive eines Täters, eines Mannes, der grausamste Verbrechen begeht, wiederwärtig ist. Bei aller Abscheu, den man empfindet, bleibt Koja leidlich sympathisch, nicht zuletzt, weil er – wie er betont – alle Grausamkeit nur aus Liebe verübt haben will. Hub, der wahre Überzeugungstäter, verliert und stürzt ab auf seinem Weg nach oben auf der Karriereleiter, Koja dagegen, der eher unbeteiligt bleibt und nicht wirklich gefestigt in einer Ideologie, der immer nur irgendwie reinrutscht, kommt kontinuierlich voran und gewinnt. Schließlich zahlt auch er seinen Preis, wenn auch in kleinerer Münze. Geht das? Ja, das geht: aber nochmals, der Roman verlangt uns einiges ab.
Ein 1.200-Seiten-Roman als doppeltes Nebenprodukt
Genaugenommen hat Chris Kraus Das kalte Blut als vorbereitendes Nebenprodukt für sein künftiges Filmprojekt geschrieben. So hält es der Drehbuchautor und Regisseur stets bei seinen Filmen. Scherbentanz, Vier Minuten, Poll oder Die Blumen von gestern gehören zu seinen vielbeachteten und preisgekrönten Werken.
Kaum verwunderlich also, dass sich der Roman sehr filmisch gebärdet. Der Text liefert sublim mögliche Kadrierungen der Filmkamera mit und konzentriert seine Persepektive auf möglichst dramatische Settings. Alles ist schnell geschnitten, die Dialoge auf Tempo, Effekt und Effektivität getrimmt und häufiger als nötig setzt Kraus auf Cliffhanger. Um überhaupt eine Erzählmotivation zu schaffen, wird eine Rahmenhandlung installiert. Koja liegt im Krankenhaus und erzählt dem Bettnachbarn Basti, einem 68er-Hippie-Swami, seine Lebensgeschichte im Rückblick. Rückblick ist nicht zwingend die beste aller möglicher Erzählhaltungen. Basti ist zunehmend entsetzt, weil Koja seine Handlungen nur selten reflektiert und allenfalls in Zaghaften Ansätzen einer moralischen Bewertung unterzieht. Maximen richtigen Handelns aufzustellen und zu befolgen, so läßt er in den kontinuierlich eingeschalteten Krankenhaus-Szenen durchblicken, habe sein sich überschlagendes Leben, das er nie selbstverantwortet habe, sondern das stets fremdgesteuert gewesen sei, unmöglich gemacht.
Noch genauer genommen ist Das kalte Blut ein doppeltes Nebenprodukt, denn der Roman, der Vorlage eines Filmes werden soll, basiert selbst auf einer ebenso dicken, privaten Familenchronik. In zehnjähriger Arbeit hat Kraus die Verstrickungen seines Großvaters in der SS und im Geheimdienst recherchiert. Auch diesen Schock, zu lernen der Spross eines »NS-Täters« zu sein, packt Kraus ins Buch. Das kalte Blut trägt schwer daran, als Verarbeitung eines schuldbeladenen Themenkomplexes in Prosa herhalten zu müssen. Wohlgemerkt, nicht ausschließlich. Der Roman ist natürlich Fiktion, nahezu alle Figuren selbstverständlich frei erfunden, haben mit dem Großvater, der Familie nichts gemein. Das betont Chris Kraus explizit im Vorspann.
Historische Fakten und fiktionale Effekte
Eine Stärke des Romans ist dies: er weist nach, wie die brutale und subersive Kompetenz der NS- und SS-Eliten nahtlos in demokratische Verdienstmöglichkeit umschlägt als Hitler in Flammen aufgegangen ist. Nicht nur in der Orgainsation Gehlen, dem von der CIA mitbegründeten Vorläufer des BND, treiben sie in fataler Kontinuität, ihre von brauner Ideologie, Rassenwahn, Nationalismus und Antisemitismus befeuerte Zersetzungsarbeit weiter. Die frühe Bundesrepublik mit ihrem jung-unerfahrenen Parlamentarismus im Ganzen ist bei Kraus ein unheimlicher Phönix, der sich aus nie erkalteter Asche erhebt. Viel guten Glauben und Vertrauen müssen wir Leser auch aufbringen, wenn Kraus betont, nahezu alle perfiden Geheimdienst Aktionen und subersive Projekte seien historisch verbürgt. egal ob vom BND, von der CIA, dem KGB oder dem Mossad initiert. Dass die darin verwobenen Schicksale und Lebenslinien von Koja, Eva und Hub ebenso wilde, nein, noch irrsinnigere Volten schlagen, macht die Sache nicht einfacher. Kraus, es wurde bereits mehrfach erwähnt, mutet uns viel zu.
Nur wenige rote Linien scheint der Autor seinem Roman zu setzen. Das macht sein fiktionales Produkt angreifbar und ebnet (willkürlich) Pfade für kontroverse Diskussion bis hin zur offener Anfeindung wie im Fall von Jonathan Littells Die Wohlgesinnten und dessen Hauptfigur, dem SS-Offizier Max Aue. Wie Littell überschreitet auch Kraus Schamgrenzen, wenn er Täter zu Protagonisten eines auch als unterhaltend intendierten Romans befördert. Wobei Kraus, dies als steile These, deutlich absichtsvoller unterhalten möchte als Littell. Das belegt der sarkastische und zynische Ton, den Kraus seinem Icherzähler Koja in den Mund legt und der beim Leser zu der Figur, den Figuren, ein sehr ambivalentes Verhältnis von Anziehung und Ablehnung aufbaut. Ironie als bewährtes Mittel, Distanz und Nähe in Balance zu halten. Kojas Motivation weiterzumachen wird heruntergebrochen auf eine simple Formel: Jeder Mensch kann zum Mörder werden, wenn er, um seine Liebe und sich selbst zu retten, dazu genötigt wird. Das ist angesichts der zeitgeschichtlichen Dimension des Romans letztlich zu plakativ und zu kurz gegriffen. So unterfüttern großes Drama, große Gefühle, schwarzer Humor und historische Wahrheit eine zugegeben rasante Story, die wie eine dieser modernen Netflix-Serien Brisanz, Aktion und Vielschichtigkeit in perfekter Optik und Rhythmus setzt.
Littell steigerte die Lebensgeschichte Max Aues in Die Wohlgesinnten zu einer schwülstigen Phantasmagorie, die von griechischem Drama, Philosophie und kulturgeschichtlichem Ballast durchdrungen war. Littells Stil war monströs, kompliziert, aufgeladen und weitschweifig, er hatte (bisweilen einschüchternde) literarische Wucht. Kraus dagegegn setzt zu häufig auf den schnellen Effekt. Er kann schreiben, weiß seine sprachlichen Mittel zu setzen, schießt aber gelegentlich übers Ziel hinaus, weil er zu effektvoll sein möchte, zu viel auf einmal einsetzt, um damit zu viel zu erreichen. »In allem, was wir sehen, steckt eine Karikatur, die wir erkennen müssen«, heißt es an einer Stelle im Roman.
Was machen wir nun damit?
Ich sage es ein letztesmal: Kraus mutet seinen Lesern einiges zu. Aber es lohnt durchaus Das kalte Blut zu lesen, denn im Fluss der Lektüre bewährt sich der Roman als Pageturner. Alle Angriffspunkte, die diese Melange aus historischen Fakten und verbürgten Biographien, aus umgearbeiteten und gespiegelten Ereignissen aus der Krausschen Familiengeschichte und frei Fabuliertem bereithält, scheinen von Kraus, das sei ihm unterstellt, intendiert und bewußt in Kauf genommen zu sein. Er fährt hartnäckig Vollgas, selbst wenn der Wagen mit quietschenden Reifen aus der Kurve zu fliegen droht. Das funktioniert, man muss sich aber drauf einlassen. Dass es bei besonders stürmischen Wendungen im dramaturgischen Gefüge kräftig ächzt, dass oft ein Hauch platter Kolportage weht, ist zwar ärgerlich, aber noch akzeptabel. Unterm Strich ist Das kalte Blut Prosa, die mitzureißen versteht.
Ein Sitten- und Zeitpanorama, das ein deutsch-baltisches Brüderpaar von der Zarenzeit, über das aufstrebende Dritte Reich, seinem Untergang im Weltkrieg, dem Nachkriegschaos bis in die 1970er Jahre der Bundesrepublik begleitet. In Gestalt der Nazi-Technokraten überlebt das Böse mit all seiner Banalität, seinem unzerbrüchlichen Corpsgeist und seiner Spießbürgerlichkeit. Kraus zeigt, wie wenig wir wissen von der Wiedereingliederung belasteter Nationalsozialisten ins demokratische Deutschland, vor allem zeigt er, wie wenig Lehren wir daraus geuogen haben. Im Roman formuliert es Koja so: »Ohne Lügen würden alle Familien untergehen. Und auch alle Staaten.«
Roman
Gebunden, 1.200 Seiten
Zürich: Diogenes Verlag 2017
Mehr Informationen und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlages
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Ein persönlicher Nachtrag: Unmittelbar nach der Lektüre habe ich meiner ersten Reaktion auf Das kalte Blut in einem Video »Luft verschafft«. Das klang sehr enthusiastisch und begeistert. Ich muss betonen, nachdem ich über den Roman nachgedacht, meine Notizen sortiert und meine Gedanken zu Papier gebracht habe, überlagerten die oben beschriebenen Kritikpunkte den ersten Eindruck. Das Buch bietet einige Angriffsflächen. Das Video ist nicht ungültig, sollte aber mit der differenzierteren Besprechung zusammen betrachtet werden.
Bildnachweis: Offiziere der SS und SA in Riga, Februar 1944 | Bundesarchiv, Bild 146-1970-043-42 / Fotograf: unbekannt | [CC BY-SA 3.0] | Quelle: Wikimedia Commons
Porträt Chris Kraus | Fot0 von Maurice Haas / © Diogenes Verlag