200 Jahre Kinder- und Hausmärchen
FrüherTM waren sie neben der Lutherbibel in nahezu jedem Haushalt zu finden; die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Mittlerweile scheinen sie aus der Mode gekommen zu sein. Aber sie sind zu unrecht vergessen und verdrängt, finde ich. Anfang 1813, also vor 200 Jahren, ist der erste Band dieser kultur- und sprachgeschichtlich bedeutenden Sammlung erschienen. Aus Anlass dieses Jubiläums sei hier eine Lanze für die Grimms gebrochen.
Ich erinnere mich noch gut an den alten, schiefgelesenen Band mit dem abgegriffenen Umschlag und dem brüchigen Buchrücken. Aus dieser Auswahl der Grimmschen Märchen haben erst die Oma und die Mutter vorgelesenen und später wir Kinder, als das Selberlesen möglich war, mühsam Zeile für Zeile die Frakturschrift entziffert. Das Personal – vom Froschkönig über Hänsel und Gretel, Dornröschen oder Hans im Glück – war uns bald vertraut.
Doch diese alte Ausgabe, sie steht immer noch in meiner Bibliothek, und viele andere auch waren bearbeitet, von Herausgebern dem kindlichen Geiste oft willkürlich angepasst. Erst im Studium kam ich mit dem Grimmschen Original in Berührung und verfiel sofort (wieder) der Kraft dieser Märchensammlung.
Jakob und Wilhelm Grimm haben sich diese Geschichten, das wissen wir heute, nicht auf Wanderungen von Bauern und einfachen Menschen erzählen lassen. Viele der Märchen sammelten sie in literarischen Salons, und erzählt wurden sie ihnen von gutbürgerlichen Damen oder von befreundeten Literaten. Vor der Veröffentlichung durchliefen sie eine lange Reihe sprachlicher Bearbeitung. Vor allem Wilhelm war es, der den eingängigen und unverwechselbaren Ton der Märchen entwickelte; jene eingängige, knappe Sprache, die so viel Raum für Imagination und Interpretation freilässt. Auch waren Kinder gar nicht das angepeilte Publikum. Die Märchen standen in der Tradition der Romantik und wollten in Form und Sprache ein auf eine imaginäre Vergangenheit, auf eine vermeintlich gemeinsame kulturelle Wurzel gerichtetes, „Volksgefühl“ etablieren. In gewisser Weise haben die Brüder Grimm das geschafft.
In der hier empfohlenen Gesamtausgabe werden die Märchen so, wie sie von den Brüdern Grimm selbst herausgegeben wurden, präsentiert. Die drei Bände umfassen nicht nur alle Märchen nach der „Ausgabe letzter Hand“ von 1857, sondern auch alle dort nicht mehr aufgenommenen Märchen früherer Auflagen. Besonders wertvoll sind die ebenfalls enthaltenen Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Der umfangreiche Anhang bietet exakte Herkunftsnachweise zu jedem Märchen, verzeichnet alle Beiträger und Vermittler, nennt die Erscheinungsjahre der verschiedenen Märchen-Fassungen und bietet viele weitere Informationen.
Zum Vorlesen oder Selberlesen, zum reinen Vergnügen oder zum vertiefenden Studium, es gibt keine umfassendere und bessere Ausgabe der Grimmschen Kinder- und Hausmärchen, als die hier empfohlene von Heinz Rölleke, er ist (emeritierter) Professor für Deutsche Philologie und Volkskunde und einer der maßgeblichen Märchenforscher.
Neben Aschenputtel, Froschkönig, Dornröschen, Hänsel und Gretel, dem Gestiefelten Kater und all den anderen vertrauten Figuren, gibt es hier sehr viel Neues und Unbekanntes zu entdecken. Ich jedenfalls bleibe immer wieder für längere Zeit hängen, sobald ich die Grimmschen Märchen aus dem Regal nehme und anfange zu blättern.
Ausgabe letzter Hand. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und den Originalanmerkungen der Brüder Grimm
Hrsg. von Heinz Rölleke
3 Bände im Schuber, gebunden, 1552 Seiten
Stuttgart: Reclam 2010