Parship und Tinder im alten Rom – Ovid lehrt die »Liebeskunst«
Die Stadtverwaltung von Rom hat da etwas gerade gerückt: sehr spät zwar, aber immerhin. Sie nahm kürzlich ein vor über 2000 Jahren ausgesprochenes Edikt des Kaisers Augustus zurück. Der Imperator hatte den beliebten, geachteten und viel beachteten Dichter Publius Ovidius Naso, genannt Ovid, aus Rom nach Tomis am Schwarzen Meer verbannt. Dort, in der Fremde, fernab seiner Heimatstadt, verstarb der Dichter auch. Nun also die Rehabilitation: ein symbolischer Akt, rechtzeitig zum 2000. Geburtstag Ovids.
Was den sittenstrengen Kaiser genau veranlasst hat, Ovid zu verbannen, ist nicht bekannt. Aber die Liebeskunst, jenes Lehrgedicht über Flirt, Verführung, Liebe und Geschlechtsleben, in dem die Ehe kaum eine Rolle spielte, dürfte eine der Ursachen gewesen sein. Ausserdem plädierte Ovid für eine selbstbestimmte Sexualität beider Geschlechter, das stach dem prüden Augustus ins Auge.
Die Liebeskunst haben Melanie Müller, Asmus Trautsch und Tobias Roth im Galiani Verlag, ebenfalls rechtzeitig zum 2000. Geburtstag Ovids, neu herausgegeben und reich kommentiert. Mit Tobias Roth habe ich über Ovid, das Gedicht und die antiken Spielregeln der Verführung gesprochen.
Warum sollen wir diesen 2000 Jahre alten Text lesen? Was bringt uns Ovids Unterweisung in Liebeskunst heute?
Der gibt uns sehr viel auf verschiedenen Ebenen. Zunächst liefert er für historisch Interessierte einen detaillierten Einblick in den römischen Alltag. Uns ist kein anderer Text aus der Zeit erhalten, der so viel Alltagsleben aus dieser Millionenstadt intus hat. Hier wird konkret gesagt, diese Sachen kauft man da und da, hier ist es immer überfüllt, hier trifft man sich, hier sind die angesagten Viertel; so präzise, dass man jeden Ort heute noch auf der Landkarte lokalisieren kann. Und Ovid geht noch weiter. Bis hin zu Erläuterungen, wie man sich schminkt, was man anzieht, wie die Haare gefärbt werden. Das führt in Bereiche wie heutzutage: auch jetzt noch regen sich die Alten darüber auf, dass die Jugend zu dekadent ist, sich zu krass schminkt und die Haare zu auffalllend färbt. Wir lernen, das ist ist schon immer so gewesen. Das ist eine Gabe des Textes. Das andere ist die große, virtuose Erzählkunst, in der Liebeskunst scheint der Ovid der Metamorphosen schon auf und bereitet sich vor. Außerdem ist ein nicht unerheblicher Part des Textes wirklich gute Lehre. Es werden grandiose, mythologische Szenen in den Text eingelegt, da ist das ganze Repertoire psychologischen Raffinements ausgelegt, fieses, sezierenden Erzählen in großen, poetischen Bildern und, ich glaube man kann das wirklich so sagen, auf der Ebene eines Dating-Ratgebers funktioniert die Liebeskunst immer noch. Ovid empfiehlt tatsächlich totsischere Kniffe, fordert so hohe Einsätze in das Spiel, dass es mit dem Teufel zugehen müsste, wenn das Buch nicht heute noch in dem Sinn benutzt werden könnte, in dem es der Autor vorschlägt und auch intendiert hat.
Aber es ist und bleibt ein Text der römischen Antike. Wie steht es da um die Sprache, wie heutig, wie hochsprachlich ist sie, wie hoch ist die Schwelle, die der Leser zu überschreiten hat?
Höchstes Hinderniss ist im Original natürlich die lateinische Sprache, aber wir bieten ja eine deutsche Übersetzung, nämlich die von Wilhelm Hertzberg aus dem Jahre 1854, die von Franz Burger 1923 umfassend revidiert wurde. Wir halten die Arbeit Hertzbergs und Burgers nach wie vor für sehr gelungen, sie ist nah an Ovids Ausgangstext. Dennoch haben wir sehr viel modifiziert und überarbeitet und gefeilt, in vielen Passagen sogar sehr kräftig geraspelt, um Verständnisschwellen abzubauen oder typische Wendungen des neunzehnten Jahrhunderts ins Einundzwanzigste zu heben. Doch zu Ovid selbst: Liebeskunst ist eine Versdichtung; uns heute erscheint es ungewöhnlich, dass Erzählung in Versen geschieht, in strenger Form, in elegischen Dystichen, also einer sehr artifiziellen, auf Pointe zielenden Form. Aber es ist ein Plauderton. Genau diesen Parlandostil hat Herzbergs Übertragung gut eingefangen, auch deshalb haben wir sie herangezogen. Erst auf den dritten Blick offenbart der Text, wie hochliterarisch und vertrackt sein Versbau eigentlich ist. Aber da muss der Leser keine Scheu, haben, dafür gibt es den Kommentar drumherum.
Ja, diese Ausgabe hält immens viel Kommentar bereit. Er ist in Anlehnung an die großen, kunstvoll gestalteten Ausgaben der Renaissance um den Text herum gesetzt, das macht Blättern überflüssig. Dennoch: Auf den ersten Blick dachte ich, meine Güte, die Menge erschlägt mich. So viele Details, soviele Erläuterungen, soviel Weiterführendes. Wie sollen wir Leser mit diesem Kommentar umgehen. Wie nutzen wir ihn, um Gewinn daraus zu schöpfen?
Die Leseausrichtung ist schwierig bei dem Buch, das stimmt, aber wir gehen nicht davon aus, dass der Leser gleich zu jedem Vers oder Wort sofort den Kommentar heranzieht. Der ist für eine diskontinuierliche Lektüre gemacht, ganz bewusst.Wir wiederholen uns auch an gebotener Stelle, damit man nicht blättern muss, wenn zum fünften mal Achill auftaucht. Gleichzeitig wird, um bei dem Beispiel zu bleiben, Achill nicht stur und mit immer gleichen Wortlaut erläutert, sondern der jeweils an der Stelle hervorgehobene Aspekt. Der Kommentar ist auch nicht in trockener Gelehrtensprache verfasst. Wir haben uns bemüht, soweit das ging, das angesammelte Wissen sehr literarisch, mitunter locker, humorvoll und mit ironischen Spitzen auszubreiten. Auch der Kommentar bedient sich erzählerischer Mittel. Ich würde jedoch vorschlagen, erst einmal tatsächlich Ovid zu lesen und dann sollte jeder schauen, wo sein Genuß vermeintlich geschmählert würde, wenn man einen bestimmten mythologischen Namen, eine spezifische Anspielung nicht zuordnen kann. Das konnten die zeitgenössischen Leser übrigens auch nicht aus dem FF. Wer heute behauptet, dass die Leute das früher quasi alles „drauf hatten“, der erzählt Quatsch. Ich würde die Leser zu höchster Freiheit aufrufen. Wenn dir etwas komisch vorkommt, dann guck mal über den Rand des Textes in den Kommentar, wenn du weiterlesen möchtest, dann lese einfach weiter.
Also ein Angebot, das alles Nötige bietet, aber ich bin nicht gezwungen, es ständig zu nutzen und jeden Wissenskrümel aufzusaugen?
Der Text wird auf verschiedene Aspekte hin kommentiert. Es gibt den umfassenden Bereich der Realien, den man so ausführlich sonst nirgends erhält. Man erfährt zum Beispiel, womit werden Kleider gefärbt, woraus besteht die Schminke, was kostet der Eintritt ins Marcellus Theater, also lebensweltliche Angelegenheiten. Das ist alles hervorragend erforscht, und wir stehen hier quasi auf der Schulter von vielen anderen kleinen, sich türmenden Zwergen, haben in Fleißarbeit viel Verstreutes synthetisiert auf unser Buch zu. Der zweite große Kommentarteil widmet sich dem Bereich der Mythologie, den heutige Leser eher weniger parat haben, in dem aber viel Raffinement steckt, viel Ironie und gerade in Richtung der herrschenden Eliten transportiert Ovid viel Sarkasmus. Ovid war keineswegs staatstragend, wie viele glauben, im Gegenteil, er legte in seinen Anspielungen viele Nagelbretter aus. Und als letztes sollen die vielen literarischen Anspielungen genannt werden; Ovid baut auf den gesamten Kanon der antiken Liebesdichtung auf und er spielt manifeste Rolle in Liebeskunst. Nur ein Beispiel: an einer Stelle geht es um den richtigen Moment in der Liebe; und der Ausruf, den Ovid seinem Schüler in den Mund legt, ist ein Vers von Properz. Also, wenn das Hochgefühl des Augenblicks ein literarisches ist, dann ist es richtig. Ausführlich gelistet ist auch, wo Ovid, wenn es um die Liebe geht, in späteren Jahrhunderten rezipiert und übernommen wurde. Das reißt teilweise weitere Kontexte auf, etwa wenn Verse von Ovid in einer Mönchregel auftauchen. Die einzelnen Kommentarsplitter sind übersichtlich, so dass jeder sich passendes herausgreifen kann, wenn es um römische Literaturgeschichte geht.
Eure Empfehlung lautet also: unverzagt ran an den Text, ganz unvoreingenommen lesen und bei allem hochgestochenen Beiwerk versuchen, Ovid einfach zu genießen?
Ja, keine Scheu zeigen gegenüber dem, was vermeintlich hochkulturell ist. Ovid war in seiner Zeit ein Bestsellerautor, er war angesagt, er war hip. Was ihn auf ein Podest stellt, sind die Jahrtausende zwischen ihm und uns. Entscheidend ist, die antrainierte kulturelle Scham zurückzustellen, stets zu fragen, was kann ich damit jetzt anfangen. So gesehen ist die Liebeskunst eines der ergiebigsten Werke der Antike.
Der Lyriker und Übersetzer Tobias Roth ist ein intimer Kenner der Literatur der Antike und der Renaissance, ihm sei also sein Urteil von der eingängigen Leichtigkeit der Ovidschen Verse verziehen. Dem Einsteiger bietet der römische Dichter in seinem Lehrgedicht doch einige Hürden, eine einfache Lektüre ist die Liebeskunst nicht. Sie verlangt Konzentration und Aufmerksamkeit. Aber, da hat das Herausgeberteam Recht, Ovid bereitet auch Spaß und sinnliche Freuden.
Sollte die Kunst zu lieben jemanden fremd sein,
dies Gedicht les er und liebe gekonnt.
So eröffnet Ovid die Liebeskunst, wer sich nach diesen ersten Zeilen hineinfallen läßt in den Text und forttreiben läßt, genießt Dichtkunst und Gelehrsamkeit auf höchstem Niveau.
In der Übersetzung von Hertzberg/Burger
Überarbeitet und reich kommentiert von Tobias Roth, Asmus Trautsch und Melanie Müller
Gebunden, Leinen, zwei Lesebändchen, 384 Seiten
Berlin: Galiani 2017
Mehr Informationen und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlages