Schamanen und Bombenleger – »Dagny oder Ein Fest der Liebe« von Zurab Karumidze
Der Roman Dagny oder Ein Fest der Liebe ist eine herausfordernde Lektüre. Beinahe fällt es leichter aufzuzählen, was nicht in diesem Roman vorkommt, denn Zurab Karumidze rührt mit kindlichem Vergnügen und intellektueller Souveränität eine überbordende Geschichte zusammen, in deren Mittelpunkt eine starke, faszinierende Frau steht. Dagny Juel hat es wirklich gegeben, sie war Muse und Modell Edvard Munchs, Geliebte Strindbergs, Femme fatale und unterwegs im Berliner Künstlerkreis um die Kneipe »Das Schwarze Ferkel“, verheiratet mit einem polnischen Bohemiensatanisten und Opfer eines liebesverrückten Bankrotteurs mit Pistole, der sie am 4. Juni in Tiflis erschoss.
Ausgehend von den letzten Tagen Dagnys in Tiflis spannt Karumidze weite Bögen in die Geschichte, Kultur und Mythen Georgiens. Nicht alles ist wahr, nicht alles real und dem Erzähler des Romans sollte niemand über den Weg trauen, denn er fabuliert, fantasiert und lügt, dass sich die Balken biegen. Der Streifzug durch Georgiens Mythen und Märchen kulminiert in einem Fest der Liebe, bei dem Dagny und ihre Begleiter mit kosmischen Strömungen vom Saturn, Außerirdischen, heiliger Musik, Schamanen und einer Bombe konfrontiert werden. Verrückt? Ja, und wie! Lesenswert? Ja, unbedingt!
Ich habe mit Zurab Karumidze über Dagny oder Ein Fest der Liebe gesprochen:
Wie sind Sie auf Dagny Juel gestoßen und warum wollten Sie über sie zu schreiben?
Das erste mal hörte ich von ihr 2002, auf einem Nachtflug von St. Louis nach Washington D.C. mit einer Gruppe von georgischen Schriftstellern und Intellektuellen. In der Reihe hinter mir blätterten zwei Freunde von mir, ein Maler und ein Autor, in einem Buch über Edvard Munch, das der Maler in einem Ramschverkauf erstanden hatte. Ich hatte ein Bier getrunken, döste vor mich hin und bevor ich einschlief hörte ich hinter mir: Weißt du, diese Frau wurde in Tiflis erschossen. Zwei Jahre später, in Tiflis, rauchte ich vor einem Termin noch schnell eine Zigarette auf der Straße und mein Blick fiel auf eine Tafel an einem Gebäude, auf der stand, dass hier die Norwegerin Dagny Juel und jemand mit einem polnischen Namen erschossen worden seien. Eine Norwegerin in Tiflis? Plötzlich fiel mir der Dialog aus dem Flugzeug wieder ein. Ich ging nach Hause und begann zu googeln. In den Ergebnissen tauchten sehr viele norwegische und polnische Texte auf, da ich passabel Russisch spreche, konnte ich mich irgendwie durch die polnischen Texte arbeiten. Ich stieß auf bekannte Orte wie den Tifliser Zentralfriedhof und Namen wie Edvard Munch und schließlich auf ein englisches Buch einer Norwegerin. Ich bat einen Freund in den USA, mir dieses Buch zu besorgen. So kam ich in Kontakt mit Dagny Juel.
Was hat sie an ihr so fasziniert?
Sie war eine ganz und gar aussergewöhnliche Frau. Was Lou Salomé für Nietzsche war oder für Rilke, verkörperte Dagny Juel Anfang des 20. Jahrhunderts für Edvard Munch, Strindberg und andere norwegische Schriftsteller. Sie war Pianistin und Schriftstellerin, eine der ersten modernistischen Frauen, sehr emanzipiert in ihrem Leben und Schreiben. Sie war sehr umtriebig, verfasste Gedichte und symbolistische Kurzprosa in freier Form, auch libertäre Theaterstücke. Sie war verheiratet mit dem polnischen Schriftsteller Stanisław Przybyszewski. Er war ein Lebemann und Frauenheld wie er im Buche steht, und als er Dagnys überdrüssig wurde, verschenkte er sie, man kann es nicht anders nennen, an den jungen Krakauer Władysław Emeryk. Mit ihm kam Dagny nach Tiflis, wo Emeryk erst sie und vier Tage später auch sich selbst erschossen hat; aus Liebeskummer heißt es. Dieses Drama hat mich sofort gepackt, ebenso die Vorstellung, wie diese Frau in ihrer Zeit über Grenzen schritt, ideelle wie geographische. Wie Grenzen überwunden werden, wie sich Kulturen mischen und gegenseitig beeinflussen, das war schon immer eines meiner großen Themen.
In Ihrem Buch bringen Sie Dagny Juel mit dem griechisch-armenischen Schriftsteller, Choreograph und Komponisten Georges Gurdjieff zusammen, obwohl die beiden sich im wirklichen Leben niemals getroffen haben. Warum?
Es gibt ein Gerücht, eher eine Legende, dass Dagny und Gurdjieff eine Affäre gehabt hätten. Aber das ist Quatsch. Gurdjieff war zu der Zeit nicht einmal in der Stadt. Aber, nachdem ich begonnen hatte Dagnys Geschichte aufzuschreiben, nach vielen, sehr viel Seiten, fühlte ich mich plötzlich unheimlich gelangweilt. Es reichte mir nicht mehr, einfach nur die Lebensgeschichte dieser beeindruckenden Frau zu verfassen, ich brauchte einen besonderen Dreh für die Story, einen Kick. Deshalb habe ich Gurdjieff hineingeholt und mit ihm all seine Extravaganzen; die kosmischen Vibrationen, die Esoterik und die heilige Musik, mit denen Gurdjieff und die Anhänger seiner Bewegung »Vierter Weg«, Geist, Seele und Kosmos in Einklang und Schwingung versetzen wollten. Als das da war kam schließlich der Rest hinzu. Im Prinzip sind es mehrere Storys, die Dagnys Porträt rahmen.
Und Sie haben weit zurückgegriffen in die Georgische Kulturgeschichte. Schota Rustaweli und sein Epos »Der Recke im Tigerfell« spielen ebenfalls eine tragende Rolle.
Ja, mein Ansporn war, Georgien gewissermaßen zu globalisieren, der englisch sprechenden Welt die Geschichte unseres Landes zu erklären, sie verständlich, griffig und leicht lesbar zu machen. In einem klassischen Pastiche verarbeitete ich alles, was mir in den Sinn kam und von dem ich dachte, das gehört dort hinein. Rustawelis mittlealterliche Epos bildet gewissermaßen das Fundament der georgischen Literatur. Es ist allen Georgiern bekannt, es ist Schullektüre und viele Menschen, junge und alte, können zumindest Teile des Gedichtes auswendig aufsagen. Wer sich mit Georgien beschäftigt, stößt unweigerlich auf Rustaweli. Er steht im Zentrum, um ihn herum gruppiere ich alle anderen Themen und Einflüsse. Das reicht vom Goldenen Vlies und dem Kolchis der Medea bis in die Gegenwart. Am Rande taucht sogar der junge Stalin auf, als anarchistischer Bombenleger und Revolutionär im Jahre 1901.
Flapsig könnte man ihren Roman als völlig verrückt und durchgeknallt bezeichnen. Mit seiner Flut von Zitaten, Anspielungen, Verweisen und Anachronismen, ob versteckt oder offen, bekommt er einen sehr postmodernistischen Touch. War das Absicht oder ist das einfach passiert während des Schreibens?
Ich habe den postmodernen Roman und seine Theorie intensiv studiert während meiner Zeit in den USA und mich förmlich darauf eingeschossen. Aber Dagny würde ich, anders als einige meiner früheren Romane, eher meta-modernistisch als postmodern im klassischen Sinn bezeichnen. Ich arbeite mit binären Widersprüchen, so wie Katzen mit toten Mäusen spielen, hinter dem Text steckt eine Art kindliche, unschuldige Erregung und viel Liebe. Ja, das Buch steckt voller Liebe.
Welche Rolle spielt die fremde und befremdliche Esoterik, die Ströme kosmischer Energie zwischen Saturn und Erde, dieses merkwürdige »Feste der Liebe«?
Das ist ein Spiel, ein Jux. Ich nehme das, was zum Beispiel Gurdjieff und seine Jünger getrieben haben, ja nicht ernst, nicht einmal im Ansatz. Hätte ich Dagny in meiner Muttersprache Georgisch, geschrieben, wäre das Buch allenfalls halb so lustig und verrückt. Diesen Text konnte ich nur, musste ich auf Englisch schreiben. Stellen Sie sich jemanden vor, dem ein Leben lang der Zutritt zu einem bestimmten Gebiet verboten wird, aber plötzlich öffnen sich die Tore doch und er wird aufgefordert: Lauf los, unternimm, was immer du willst! Ich habe die englische Sprache immer bewundert und geliebt, aber erst als ich begann auch auf Englisch zu schreiben, merkte ich, wieviel Freiheiten ich plötzlich bekam, wie unbeschwert ich alles an- und aussprechen konnte und fabulieren und herumalbern. Auf Georgisch wäre der Roman anders geworden, weniger verückt und durchgeknallt, viele Passagen vorsichtiger, mit mehr innerer Kontrolle geschrieben. Unterm Strich wäre er schlicht langweilig geraten.
Was können, was sollten deutsche Leserinnen und Leser durch Ihren Roman lernen über Georgien?
Ich hoffe, etwas von der georgischen Mentalität zu vermitteln, von der Einstellung der Georgier zu … ja, zu was genau?! (Pause) Vielleicht das: Alle Georgier sind verrückt, aber einige sind noch verrückter als der Rest. (lacht) Georgien ist ein kleines Land, lag aber immer an der Schnittstelle wichtiger Handeslstraßen, war somit in der Lage Einflüsse aus Ost und West, Nord und Süd, zu absorbieren und zu verarbeiten. In der georgischen Kultur überlagern sich philosophische Ideen, religiöse Lehren und mythologische Vorstellungen aus dem heute als Westeuropa bezeichneten Raum mit Einflüssen aus dem Orient oder aus Asien. Gleichzeitig wahrte Georgia auch Distanz, unsere alte Kultur blieb und bleibt geprägt von einer tiefen, eigenen Identität, obwohl sie sich zu allen Zeiten in viele Richtungen geöffnet hat. Wir Georgier sind im Grunde sehr dialektisch.
Warum spielt ausgerechnet die Musik von Johann Sebastian Bach eine Schlüsselrolle im ominösen »Fest der Liebe«? Warum haben Sie aus der Vielzahl aller möglichern Komponisten ausgerechnet diesen im Grunde sehr deutschen Meister gewählt und nach Georgien verpflanzt?
Bach ist für mich der Höhepunkt, der Gipfel aller menschlichen Kreativität. Ich bin ein Bach-Freak, könnte man sagen, ich bin verrückt nach seiner Kunst. Das ist nicht einfach nur Musik, sondern die beste kulturelle Schöpfung, die ein Mensch, die Menschheit, je hervorgebracht hat. Wie gesagt, im Roman kombiniere ich westliches und östliches Geistesleben, verbinde Bach mit mittelalterlicher, georgischer Musik, mit dem Sufismus, den Tänzen der Sufis, mit Schamanen und ihren Gesängen. Ich schicke Bach in den Orient und den Orient zu Bach. Bach für sich ist eine Art Meta-Modernismus, denn seine Musik ist einerseits sehr intellektuell, hochkomplex und logisch, andererseits enorm religiös und spirutell aufgeladen, also sehr irrational; gleichzeitig aber auch sehr bourgois. Bach war ein Bourgois, er liebte Bier und Würstchen, setzte 20 Kinder in die Welt und genoss das Leben. Darum musste er in den Roman!
Tragik und Komik, tiefe Gedanken und alberne Spinnereien, große Liebe und wilder Sex, nüchterne Fakten und fiebrige Albträume; Dagny oder ein Fest der Liebe ist zügellos und packend. Der informierte Leser erfreut sich der unzähligen Zitate, historischen und intertextuellen Bezüge, dem weniger Informierten hilft von Fall zu Fall eine Suche im Internet. Doch Vorsicht! Man verliert sich schnell beim Hüpfen von Link zu Link. Dank Verleger Stefan Weidle und seiner Übersetzung ins Deutsche, lernen wir einen der wichtigsten zeitgenössischen Autoren Georgiens kennen. Dagny oder Ein Fest der Liebe ist eine herrliche Zumutung, eine beschwingte Fantasie und eine abenteuerliche Reise in ein Land, das wir zu kennen meinen, uns aber völlig fremd ist. Karumidze erklärt und verzaubert Georgien, alles scheint greifbar und bleibt doch so fern.
Aus dem Englischen von Stefan Weidle
Umschlag von Levke Leiß
Broschur, fadengeheftet, 288 Seiten
Bonn: Weidle Verlag 2017
Mehr Informationen auf der Webseite des Verlages
Der Weidle Verlag plant für das kommende Jahr eine Ausgabe der sämtlichen Werke von Dagny Juel. Lars Brandt wird sie übersetzen und auch einen längeren, einführenden Text dazu verfassen. Ich bin gespannt und freue mich, mehr von und über diese faszinierende Frau zu erfahren.
Bildnachweis: Stanisław Wyspiański – Portrait of Dagny Juel-Przybyszewska, 1899 | Von Ablakok (Own work) [CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)] | Quelle: Wikimedia Commons | Alle anderen Fotos: Jochen Kienbaum