»Schrecklich amüsant …« – Mit David Foster Wallace auf Kreuzfahrt
Die Zeitschrift Harper’s schickt David Foster Wallace 1996 auf eine Karibik-Kreuzfahrt. Er soll eine Reportage über das Leben an Bord schreiben. Sein nüchternes Fazit: Schrecklich amüsant – Aber in Zukunft ohne mich. Wallaces Text besticht durch genaue Beobachtung und beißenden Spott. Mehr als zwei Jahrzehnte feiert der Text (übersetzt von Marcus Ingendaay) in der Edition Büchergilde ein großartiges Comeback, bereichert um stimmige Illustrationen von Chrigel Farner. Das Urteil bleibt gültig.
Die Kreuzfahrtindustrie boomt. Täglich laufen neue Giganten der Meere vom Stapel, steigen die Buchungszahlen und maximieren sich die Profite der Branche. Die Angebote für noch mehr Spaß auf offener See überschlagen sich förmlich. Als David Foster Wallace zu seiner siebentägigen Karibik-Kreuzfahrt aufbricht, im Reisejargon kurz eine 7NC Cruise, tummeln sich auf den Weltmeeren bevorzugt US-amerikanische Rentner. So auch auf der Zenith, mit der Wallace von Florida aus in See sticht und die er bereits auf seinem Weg über die Gangway umtauft in Nadir. Auch Mister Dermatis, dem ubiquitären und stets lauernd grinsenden Hotelmanager des Schiffes, verpasst er umgehend einen neuen Nachnamen. Er heißt nun Mr. Dermatitis, wegen der Intensität seiner Sonnenbräune, die irgendwo zwischen natürlich erworben und künstlich auflackiert liegt.
Ich habe erfahren, wie Sonnenmilch riecht, die auf 21.000 Pfund heißes Menschenfleisch verteilt wird. (…) Ich habe einen dreizehnjährigen Jungen geshen, der ein Toupet trug. (…) Ich kenne inzwischen den Unterschied zwischem einfachen Bingo und Prize-O und weiß, was ein Bingo Multi-Bonus ist. (…) Ich habe blasslila Hosenanzüge gesehen, Sakkos von menstrualem Rosa, braun-violette Trainingsanzüge und weiße Freizeitschuhe, die ohne Socken getragen werden. Ich habe erwachsene US-Bürger aus dem gehobenen Mittelstand gehört, die am Info-Counter wissen wollten, ob man beim Schnorcheln nass wird, ob Skeetschießen im Freien stattfindet, ob die Crew ebenfalls an Bord schläft oder um welche Uhrzeit das Midnight-Buffet eröffnet wird. (…) Ich habe mich, wenn auch nur kurz, in eine Conga-Polonaise eingereiht.
Ein Jahr nach dem Zeitschriftenabdruck erweitert David Foster Wallace seinen Kreuzfahrtbericht für einen Sammelband mit literarischen Reportagen und Essays. Der Text wird doppelt so lang — und pointierter. Wallace legt zu Beginn alle Karten offen auf den Tisch. Er möchte sich auf der Reise nicht amüsieren, sondern ergründen, wie diese schwimmende Industrie funktioniert, deren einziges Produkt totale Unterhaltung ist. Siebenmal am Tag Essen gehen, Bingo, Tontaubenschießen, Singlepartys, zu denen nur Paare erscheinen, Leistungsträger beim Ententanz, Bordgymnastik, wahlweise bei Sonnenauf- oder -untergang, sowie unzählige Varianten von Landgängen, bei denen jeder Schritt auf größtmöglichen Spaß hin berechnet ist.
Wallace beobachtet das alles mit der durchdringenden Unbestechlichkeit eines Sauron-Auges, das über dem Schiff schwebt. Er kommentiert wahlweise kalauernd, sarkastisch oder abgrundtief bösartig. Je länger die Seefahrt dauert, desto zwiespältiger wird seine Haltung gegenüber Marketing und Vergnügen und vor allem gegenüber dem Marketing des Vergnügens. Eine 7NC Cruise, so die bittere Erkenntnis, stellt nichts anderes dar, als einen von der Unterhaltungsindustrie perfektionierten dritten Weg der metaphysischen Todesverdrängung.
Albernheiten und Unterhaltungsterror finden ihren Gipfel im Schlussbild. Die letzte Show an Bord steht an. Ein Hypnotiseur versetzt das Publikum in Trance. Läppisch-infantile Witze steigern sich zu einem apokalyptischen Tableau. Die Gesellschaft liefert sich der grenzenlosen Unterhaltung begeistert aus und werden gleichzeitig ihr blindes Opfer.
Die Zuschauer schmeißen sich weg vor Lachen, schlagen sich auf die Schenkel und müssen sich mit dem Taschentuch die Tränen aus den Augen wischen. Nach jeder neuen Bosheit von Ellery [der Hypnotiseur] folgt dieser maskenhafte Krampf der Gesichtsmuskulatur, dieses aufgeregte Wedeln mit der Hand, das sagen will: Alles nur ein Witz, in Wirklichkeit ist er nicht so, in Wirklichkeit mag er uns. Und wir sind ja auch so was von ein tolles Publikum, wir verstehen nämlich Spaß. Wir verstehen Spaß und wir wollen Spaß, das ist alles.
Man amüsiert sich zu Tode: dieses Motiv zieht sich als Leitmotiv durch Wallace’ Werk und gipfelt im 1.500-Seiten-Labyrinth von Unendlicher Spaß.
David Foster Wallace attestiert der Luxuskreuzfahrt einen sedierenden Komfort und das nehmen die Illustrationen von Chrigel Farner auf. Sie wirken bisweilen wie falsch entwickelte Urlaubsdias, deren Farben sich ins Giftige verschieben. Hinter dem aufgesetzten Servicelächeln des Personals steckt Bedrohung. Alles wirkt einen Hauch zu fröhlich, zu nett, zu perfekt — und deshalb irgendwie monströs.
Während um ihn herum das Vergnügen und der Spaß am Kreuzen durchs karibische Meer unendlich zu sein scheint, fällt Wallace angesichts der umfassenden Verhätschelei an Bord in eine Art Paranoia. Verzweifelt versucht er herauszubekommen, woher das Personal weiß, wann er die von ihm absichtlich in Unordnung gebrachte Kabine verlässt. Jedes Mal ist sie bei seiner Rückkehr wie von Geisterhand gereinigt und aufgeräumt. Diese anonyme Effizienz wird zum Sinnbild der 7NC Cruise, zum Sinnbild jeder Kreuzfahrt.
In Schrecklich amüsant — Aber in Zukunft ohne mich zeigt sich Wallace auf der Höhe seiner unnachahmlichen Schreibkunst: ein feines Gewebe aus verschlungenen Haupt- und Nebensätzen, voll beißender Ironie, komischer Wortfindungen, subversivem Witz und verwirrender Fakten in Fußnoten. Trotz aller Albernheiten durchzieht den Text ein tiefer Ernst, und bei allem Hohn und Spott bleibt Wallace stets ein feinfühliger und mitleidender Seismograf gesellschaftlicher Absurditäten.
Aus dem amerikanischen Englisch von Marcus Ingendaay
Mit 20 Illustrationen und einer Nachbemerkung des Illustrators.
Geprägter Halbleinenband, Fadenheftung, 200 Seiten
Frankfurt/M.: Edition Büchergilde 2018
Mehr Informationen auf der Webseite des Verlages
Dieser Text erschien in etwas kürzerer Version zuerst im Büchergilde Magazin 2-2018. (Download als PDF)
Bildnachweis: »Kreuzfahrtschiff« Foto von Dana Tentis | Quelle: Pexels