Ein Loblied auf den amerikanischen Traum – »Jack Engles Leben und Abenteuer« von Walt Whitman
New York in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Der Waisenjunge Jack Engle wächst in den Straßen Manhattans auf und weiß, Fäuste und Grips zielsicher einzusetzen. Im rohen Umfeld bewährt sich Jack als guter Kerl mit Herz am rechten Fleck. Als er bei dem Rechtsanwalt Covert eine Lehre antritt, wird sein Leben mächtig umgekrempelt. Denn Covert entpuppt sich als geldgieriger Schurke, der mit den Schicksalen seiner Mitmenschen spielt. Auch Jacks Lebensweg hat er einst maßgeblich beeinflusst. Jack findet heraus, was mit seinen Eltern wirklich geschah. Mithilfe tatkräftiger Freunde und einer Portion Glück kann der clevere Bursche sein Schicksal wenden und die dunklen Machenschaften Coverts aufdecken.
Bevor sich Walt Whitman seinem dichterischen Lebenswerk Grashalme verschrieb, verfasste er einige Romane und Erzählungen. Der Erfolg und Ruhm der Grashalme hat diese Prosastücke in Vergessenheit geraten lassen. Jack Engle, im Frühjahr 1852 anonym als Fortsetzungsroman in einer New Yorker Zeitung erschienen, verschwand vollends. Erst vor Kurzem wurde zweifelsfrei belegt, dass der Text aus Whitmans Feder stammt. Allein diese Zuordnung macht das Buch zur Entdeckung.
Überraschender noch als die Wiederentdeckung ist die Erkenntnis, wie modern und variantenreich Walt Whitman die klassische Aufsteigergeschichte erzählt. Wenn Nebenfiguren unvermittelt auftauchen und wieder verschwinden, erinnert das an Thomas Pynchon. Wenn Jack in der hereinbrechenden Dunkelheit auf einem Friedhof, nahezu losgelöst von der eigentlichen Handlung, über die Vergänglichkeit und die Nichtigkeit des Lebens sinniert, klingt das wie ein innerer Monolog bei Joyce. Und wenn Whitman bei einer nächtlichen Flucht über den Hudson die Kähne „wie Flussgespenster“ durch die Nebel ziehen lässt, tuscht er impressionistische Zeichnungen aufs Papier. Obgleich sich Jack Engle in Manier und Stil am Vorbild Charles Dickens orientiert, schnitzt Whitman seine Bilder vom Anrennen gegen soziale Ungerechtigkeit insgesamt aus härterem Holz als der große Brite.
Jack Engles Leben und Abenteuer verbindet quirlig-lebendige Straßenszenen mit genauer Beobachtung sozialer Schieflagen. Der Roman kontrastiert die Geschwindigkeit der Metropole mit der einfachen Schlichtheit des Quäkertums, stellt die Gier zwielichtiger Geschäftemacher der Bescheidenheit rechtschaffender Arbeiter gegenüber. Den Streit der Guten gegen die Bösen zeichnet Whitmann in fein schattiertem Schwarzweiß. Kleine Klischees in der Charakterzeichnung oder gelegentliche Schnitzer in der Konstruktion dürften dabei der hastigen Niederschrift für die Zeitung geschuldet sein. Doch das macht der Roman wett, indem er seine Leser mit vielen unterschiedlichen Prosagenres entschädigt. Er glänzt mal als Reportage, dann als sentimentale Liebesgeschichte und verkleidet sich mühelos als Detektivroman, Parabel, Autobiographie, Reformliteratur und vieles mehr.
Schließlich überzeugt Jack Engles Leben und Abenteuer auf ganzer Linie als Dokument des amerikanischen Traums. So lange Menschen an die Gleichheit glauben, an das Glücksversprechen für alle, unabhängig von Glauben, Rasse und Stand, besteht Hoffnung für eine bessere Zukunft. Diese ebenso schlichte wie große Botschaft präsentiert Walt Whitman vergnüglich und heiter, den erhobenen Zeigefinger hat der große Dichter nicht nötig.
Aus dem Amerikanischen von Renate Orth-Guttmann, Irma Wehrli
Mit einem Nachwort von Wieland Freund
Gebunden, 192 Seiten
Zürich: Manesse Verlag 2017
Mehr Informationen und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlages
Lizensausgabe für die Büchergilde Gutenberg
Bibliogr. Angaben: siehe oben
Frankfurt/M.: Büchergilde 2017
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Dieser Text ist zuerst erschienen im Magazin der Büchergilde, Viertes Quartal 2017. Das Magazin können Sie hier als PDF herunterladen.