Eigentlich müssten wir tanzen – Eine Apokalypse von Heinz Helle
16. September 2015
Es ist kalt und düster. Fünf Männer stehen dicht aneinandergedrängt unter einer Plastikplane. Sie wärmen sich gegenseitig, versuchen es zumindest. Sie trotzen dem eisigen Nieselriegen. Sie bewegen sich nicht. Wie Pinguine im Sturm stehen sie einfach da und warten. Ende der ersten Szene. Schnitt.
Szene zwei: Die fünf Männer finden eine Frau. Sie liegt halb tot am Boden unter nassen Zweigen, sie friert und ist allein. Die Männer fallen über sie her. Sie hören »ihre Stimme, einen einzigen Ton nur, wieder und wieder und wieder, und all das macht es uns unmöglich, nicht zu denken: Du willst es doch auch.« Mit diesen brutalen Schlägen in die Magengrube setzt der Roman von Heinz Helle ein. Eigentlich müssten wir tanzen entfaltet auf knapp 170 Seiten einen postapokalyptischen Albtraum.
Fürst, Golde, Gruber, Drygalski und der namenlose Icherzähler verbringen ein Wochenende in einer Berghütte, so wie sie es seit Jahren machen, denn die fünf Männer, jetzt alle um die 35, sind alte Schul- und Jugendfreunde. Als sie wieder aufbrechen und ins Tal zurückkehren wollen, ist die Welt um sie herum im Chaos versunken. Überall liegen Leichen, auf den Straßen kokeln ineinander verkeilte Autowracks, die Dörfer brennen, auf den Bauernhöfen verendet das Vieh, in Gewerbegebieten stehen tote Industriehüllen. Die fünf Männer schlagen sich zu Fuß durch, machen sich auf den Weg durch das deutsch-österreichische Grenzland in die Heimatstadt.
Tagsüber laufen sie durch Regen und Schneematsch, ernähren sich von vergammelten Lebensmitteln aus geplünderten Supermärkten oder essen Aas, Gras und Tannennadeln, nachts denken sie frierend und hungernd über ihr Leben nach, über ihre ausweglose aktuelle Situation, aber auch über ihre Jugendzeit, als sie den Feuerlöscher im Jugendclub geklaut haben, oder über Frust und Eintönigkeit in ihren Berufen. »So lustig wie früher würde es nicht mehr werden«; diese Erkenntnis schwebt bereits bei der Hinfahrt zu ihrem Berghütten-Weekend über ihnen. Am Ende werden sie alle bis auf einen sterben und der eine wird zum Kannibalen. Trost spendet dieser Roman nicht. Er verstört und er rechnet gnadenlos ab.
Was genau passiert ist, während die fünf Freunde auf der Berghütte waren, wird nicht berichtet. Der wahre Grund für die Zerstörung der Welt ist nicht entscheidend. Das Ende der Zivilisation ist Fakt. Die Frage ist, was machen die Fünf daraus.
Wie lange dauert es, bis aus Menschen Tiere werden? Bleibt man wirklich am Leben, wenn man einzig die notwendigsten Funktionen des Körpers aufrechterhält, oder wird der Mensch von einer Natur, in der alle Zivilisation getilgt ist, gnadenlos verschluckt, wird zum »sich schnell bewegenden Baum oder ein weicher Stein mit Haaren«? Was bedeutet Leben, wenn das Einzige, was bleibt, der Kampf gegen das Verhungern ist? Diesen essentiellen Frage geht Heinz Helle in karger, schnörkelloser Prosa mit beinahe lakonischem Ton nach. Wie Filmszenen werden die 69 knappen Kapitel und Rückblenden montiert und geschnitten. Selbst wenn er Gruselmomente wie im Horrorfilm heraufbeschwört (und davon gibt es einige), verzichtet der Erzähler auf effekthascherische Mittel, er benennt nüchtern und berichtet im Präsens, nur die Rückblenden stehen im erzählendem Perfekt. Der nachhaltige Schock und die Bilder, die sich beim Lesen ins Gedächtnis einbrennen und dort lange festsitzen, kommen von innen.
Und dann. das wiederholte Wieder-einmal, das uralte Auf-ein-Neues, das Öffnen der Augen, das Einatmen der Luft, das partielle Feuern der allernötigsten und vorerst einzigen verfügbaren Hirnareale, das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Spezies, die dazu verdammt ist, zu glauben, dass die Zugehörigkeit zu dieser Spezies etwas Besonderes aus ihr macht, die Pflicht aufzustehen, das Weiterleben-Müssen, die Angst vor dem eines Tages nicht mehr Weiterleben-Könnens, der erste Schritt, die Macht der Schwerkraft, das Austoßen der verbrauchten Luft, das nutzlose Wissen vom eigenen Vorhandensein, wie Watte über der Welt. Das tägliche Staunen über die Anwesenheit der Dinge.
Gehen wir?
Ja.
Immer wieder gelingen Heinz Helle diese kraftvollen, beinahe philosophischen Momente, die in wenigen Sätzen viel Wahres sagen, und immer wieder sind rührende Szenen voller Poesie und großem Gefühl in die düster-kalte Apokalypse eingewoben. Mitunter schleichen sich höchst heitere Momente ein, in denen der Überlebenskampf der Männer absurde Züge annimmt, oder sie sich in albernen Aktionen abreagieren. (Ich möchte davon nicht zuviel verraten, das wäre gemein gegenüber allen, die dieses Buch noch (oder selbst jetzt noch) lesen möchten.) Freilich, nicht alle Klischees, die das sattsam bekannte Genre des Endzeitromans bereitzuhalten in der Lage ist, vermag Helle zu umgehen. Aber er rutscht niemals wirklich aus und er verheddert sich nicht.
Eigentlich müssten wir tanzen ist ein großartiger Roman über die fragilen Strukturen unserer Zivilisation, über die Vergänglichkeit von Freundschaft und über den schmalen Grat auf dem wir zwischen den Abgründen zur Barbarei balancieren.
Auch der Kaffehaussitzer hat den Roman von Helle besprochen.