Eine handfeste Überraschung – Die Shortlist zum Buchpreis 2015
Die Shortlist zum Deutschen Buchpreis ist da – und sie ist eine Überraschung. Keine, ich wiederhole, keine (!) Übereinstimmung mit den Favoriten von uns Buchpreisbloggern. Das nehme ich, das nehmen wir jetzt erst mal so hin und schauen, wen die Jury als preiswürdig erachtet.
Die generelle Linie umreisst Jurysprecherin Claudia Kramatschek folgendermaßen:
Familiäre Fluchtwege und interkontinentale Flüchtlingsschicksale, einstige ideologische Kämpfe und der melancholische Abschied von solchen, Varianten männlicher Liebe und weiblichen Ringens mit der Macht: Die sechs von uns ausgewählten Romane sind bilanzierende Rückschau und kritische Bestandsaufnahme zugleich, die unserer Gegenwart noch im Gewand der Historie – seien das die Kulissen des elisabethanischen Zeitalters, seien das die zwölf Apostel – einen erhellenden Spiegel vorhalten. (…) Das Vertrauen in die Kraft der Fiktion als ein immer wieder wagnisreiches Kräftemessen mit Sprache und Form verbindet alle sechs Romane.
Ich beginne meine Betrachtung der Shortlist zunächst am Ende der Auswahl, denn dort steht ein Roman, den ich schon lange für einen der besten der vergangenen Buchhalbjahre halte.
Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 von Frank Witzel. Das ist Geschichtsschreibung wie sie nie zuvor betrieben wurde. Ein Roman, so ausschweifend wie sein Titel, über entscheidende Umbruchjahre der Bundesrepublik. Ein urkomischer und gleichermaßen analytischer Schelmenroman über die Zeit, als aus Pop Politik wurde. Mehr dazu in meiner ausführlichen Besprechung. Ich persönlich habe Witzel von Anfang an einen Platz auf der Shortlist freigehalten. Er hat ihn verdient.
Die Jury sagt: »Antworten auf die Frage, was Wahn ist und was Wirklichkeit, was Faktum und was Fiktion, darf man von diesem aberwitzigen Text, der sich mit Lust dem spekulativen Denken hingibt, nicht erwarten.«
Nun von vorn in alphabetischer Reihenfolge: Gehen, ging, gegangen von Jenny Erpenbeck. Dass dieser faktenreiche Roman in den Schlussspurt zum Buchpreis gehen würde war absehbar. Zu aktuell ist das Thema des Buches, zu gut passt es in die Zeit. Mir persönlich ist der Text von Erpenbeck aber etwas zu mechanisch, die Figuren häufig zu blass und leblos. Alles im Buch ist richtig und wichtig, alles gut gemeint, alles wahr und überaus lesenswert. Aber mir fehlt der letzte Biss, mir fehlen die Reibungsflächen und die literarische Herausforderung. Mehr dazu in der Besprechung.
Die Jury sagt: »Jenny Erpenbeck macht so die Stimmen der Anderen hörbar. Zugleich verknüpft sie die Gegenwart mit der Vergangenheit und verdeutlicht, dass die Figur des Flüchtlings immer schon Teil auch unserer (abendländischen) Geschichte ist.«

In Über den Winter behandelt Rolf Lappert die Fallstricke und Weichenstellungen in der Mitte eines Lebens. Es geht um den Tod, eine biographische Neuorientierung und eines Mannes Suche nach sich selbst. Als die Longlist bekannt gegeben wurde, habe ich Lappert, ich gestehe es, relativ schnell aussortiert. Zu vertraut war mir diese Art lebensbilanzierender Selbsterkundung. Bücher über Menschen, die einigermaßen erfolgreich in der Mitte der Gesellschaft stehen und dann doch den Boden verlieren, sind Legion. Ganz provokant formuliert: Lapperts Roman zähltt für mich zur Literatur für Leute, die Literatur brauchen, um sich selbst zu bestätigen ohne dabei zu sehr herausgefordert oder irritiert zu werden. Mich reizt das eher wenig… Sorry.
Die Jury sagt: »Lapperts bildmächtiger Familien- und Gesellschaftsroman zeichnet verschiedenste Formen von zunehmender Vereinzelung in der Massengesellschaft nach und zeigt auf, dass Leben nicht ohne Verantwortung, ohne Bindung, ohne ein Sich-Einlassen zu haben ist.«

Ist Wie ihr wollt von Inger-Maria Mahlke mit dem koketten Rückgriff auf Shakespeare im Titel wirklich mehr als nur ein gelungener Historienroman über die Emanzipation einer ausgestoßenen Frau? Ich habe das Buch der jungen Autorin aus Berlin nur angelesen bislang, kann also nicht wirklich urteilen, wie verdient der Shortlistplatz ist. Ein zweiter Blick in den Roman ist fest vorgenommen. Schließlich hat im vergangenen Jahr bereits Thomas Hettche mit Pfaueninsel bewiesen, wie eine Geschichte über eine historische Aussenseiterfigur wirkmächtig in unsere Gegenwart einzudringen vermag.
Die Jury sagt: »Indem Mahlke eine Machtlose, gefangen im Kerker ihres Körpers, zur Protagonistin macht, gelingt ihr ein fulminantes Stück weiblicher Gegengeschichtsschreibung.«

Über Ulrich Peltzers Roman Das besseres Leben heißt es: »Wer im 20. Jahrhundert jung war, hat von einer anderen Gesellschaft geträumt. Diese politischen Utopien sind in Terror umgeschlagen, die damaligen Revolutionäre leben heute in einer radikal kapitalistischen Welt.« – Revolutionäre Utopien von einst treffen auf den Turbokapitalismus von heute. Ein hochinteressantes Thema, eigentlich. Stilistisch brilliert Peltzer mit Formen und Stilmitteln der modernen und postmodernen Literatur, die manche längst ad acta gelegt haben. Rücksicht auf seine Leser nimmt Peltzer kaum und so halten die einen seinen Text für überragend und als Einzigen preiswürdig, andere dagegen für schlicht unlesbar. Bei mir führte Peltzer zum Abbruch nach 50 Seiten. Mag sein, dass meine Kapitulation vor dem Text eine überhastete Aus-dem-Bauch-raus-Entscheidung war und vielleicht nehme ich die Lektüre noch einmal auf. Aber, momentan fühle ich mich wenig motiviert dazu. Buchpreisblogger Tobias Nazemi hat im buchrevier seine Erfahrungen mit Peltzer ausführlich beschrieben.
Die Jury sagt: »Peltzer lässt den Leser in oft mündlich verknappter, aber immer hochliterarischer Sprache, auch mit inneren Monologen, die an Joyce erinnern, am Dasein der Protagonisten teilhaben.«

Monique Schwitter liefert uns in Eins im Anderen eine Lebens-Liebens-Bilanz als merkwürdig verschrobene, zeitgenössische Heiligenlegende. Ein Beziehungsbrevier. Durchaus vielschichtig geht sie das Thema an, aber gerät bei ihren amüsanten Apostel-Variationen zunehmend in Heiligenbildchen-Kitsch-Verdacht. Dass auch dieser Roman einen Platz auf der Shortlist ergattern konnte und damit schon jetzt zu den Siegern im Wettstreit um den »besten deutschen Roman des Jahres« gehört, hat uns Buchpreisblogger schon sehr überrascht. (Und nicht nur uns…)
Die Jury sagt: »Der Episoden-Roman verhandelt die grundlegenden Themen der Literatur: Liebe und Tod, Treue und Verrat. Die entscheidende Frage, die er umkreist, lautet: Wie verhält sich eins zum anderen – die Liebe zum Tod, der Tod zur Liebe?«
Vorläufiges Fazit: Die Shortlist ist irritierend-gewagt und ich hätte gerne bei den Diskussionen der Jury Mäuschen gespielt, um mehr zu erfahren über das Pro und Contra zu einzelnen Entscheidungen. Schön ist, dass mit Matthes & Seitz und dem Literaturverlag Droschl zwei kleine, unabhängige Verlage den Sprung nach ganz vorne geschafft haben. Enmal mehr eine Anerkennung der exzellenten und lebendigen Arbeit der Verlagsszene der Inidies. Auffällig ist die Quote: drei Frauen, drei Männer. Über falschen Gender-Proporz darf und kann folglich niemand meckern.
Suhrkamp, für viele immer noch (oder wieder) das Großschiff der deutschen Verlagsflotte, geht unter, obwohl der Verlag drei hervorragende Romane ins Rennen geschickt hat. Meiner Meinung nach hätte Heinz Helle mit Eigentlich müssen wir tanzen einen Platz verdient. Clemens Setz auch? Nun ja, es wäre vielleicht doch nur eine Auszeichnung dafür gewesen, dass Setz einfach Setz ist. Andererseits ist sein Roman Die Stunde zwischen Frau und Gitarre sprachlich und formal auch eine der aufregendsten Titel dieses Bücherherbstes. Kann man ihn so schnöde übergehen? Nun, Aufmerksamkeit wird ihm ohnehin genug gewidmet und ein groß angelegtes Social-Reading-Experiment dreht sich ganz allein um diesen 1000-Seiter. Schmerzlicher als das Ausblenden von Clemens Setz ist: Keine Autorin, kein Autor mit »Migrationshintergrund« (blödes Wort, nicht wahr?!) wurde berücksichtigt, dabei sollten wir gerade in Zeiten wie diesen den Stimmen der Zuwanderer und der Autor_innen mit nichtdeutschen Wurzeln aufmerksam lauschen. Schade, da wurde ein Chance leichtfertig vergeben.
Nun flapsig vorpreschen und ein Ende finden. Der Buchpreis ist kein Ponyhof, kein Wünsch-Dir-Was, kein Kindergeburtstag. So ist es nun mal. Und niemals vergessen werden sollte: die Dynamik der Juryentscheidungen wird in nicht geringem Maße auch beeinflusst von Marketingüberlegungen. Was legen wir wem auf den Gabentisch? Findet der Buchhandel eine Empfehlung für jeden Geschmack auf der Liste? Eine Antwort auf diese Frage zu finden, könnte ein interessante Aufgabe sein. Also, frisch ans Werk. Die Shortlist lesen (und was von der Longlist noch übrig ist, zum Beispiel das Siebentürmeviertel von Feridun Zaimoglu) und das erlesene diskutieren. Bis zur Preisverleihung bleibt noch gut ein Monat.
P.S.: Der Beitrag vom 16. September wurde am 17. September 2015 bearbeitet und erweitert.