Ihr langweilt mich (fast) alle – Ein kleine Motzerei als »Befreiung« vom Buchpreis
Es wird Zeit für ein persönliches Bekenntnis. Als Buchpreisblogger habe ich in diesem Jahr versagt. Der Beweis, aufmerksame LeserInnen haben es längst bemerkt: kaum Artikel mit dem Label Buchpreisblogger 2016. Warum? Ach, einfach zu wenig Zeit, zuviele andere Verpflichtungen, eine nicht niederzuringende Grundträgheit und ein Urlaub (der war sehr schön!). Hinzu kamen, das wiegt am schwersten, andere Bücher, sämtlich Titel, die mich brennender interessiert und magnetischer anzogen haben, als alles auf der Longlist. History is repeating. Bereits 2015 bekannte ich, unwürdig zu sein, den Buchpreis zu begleiten. Der Text, damals im Vorfeld verfasst, ist heute noch (oder wieder) gültig, diesmal allerdings in der Nachbetrachtung. Was also genau ist passiert?
Mich konnten die Longlisttitel, die ich gelesen habe alle wenig bis gar nicht überzeugen. Ich meine mich, als ganz privatimen Lust-Leser auf der heimischen Couch. Zwei Ausnahmen lasse ich passieren: Thomas Melle, Die Welt im Rücken (Rowohlt Berlin, großartig) und Bodo Kirchhoff, Widerfahrnis (FVA, auch großartig, mit klitzekleinen Abstrichen). Melle überzeugt mit einer furiosen, literarisch kunstvoll überformten Selbstzerlegung und – vergewisserung, einem Text, der mir als Leser (reale) physische Schmerzen bescherte und mich deshalb nicht losgelassen hat. Literatur, die Geist und Körper angreift und mitnimmt. Kirchhoff belebt die (von einigen als altmodisch, langweilig und für tot erklärte) Gattung der Novelle. Kirchhoff schreibt Prosa wie aus einer anderen Zeit (keine Ironie!), sprachlich dicht und kunstvoll ziseliert (keine Ironie!), mit Figuren, denen ich gerne gefolgt bin auf ihrem Roadtrip durch Italien, auch wenn sie am Ende unfähig sind zu lieben und mitzuleiden. Der Rest? Nun, ja …
Viel Midlife Crisis, Larmoyanz, Rückblick, Sehnsucht nach Vergangenem und bemühte Selbstfindung dominierten die Texte auf der Longlist. (Um mögliche Einwände gleich abzuschmettern: Ausnahmen bestätigen die Regel.) Schon bei Durchsicht des kleinen Heftchens mit den Leseproben dachte ich immer und immer wieder; das interessiert mich nicht, das Thema berührt mich nicht, das ist nicht meine Lebens-, Gefühls- Interessenssphäre, nicht meine Welt, da ist nichts, was ich jetzt lustvoll lesen möchte. (Auch hier: Ausnahmen bestätigen die Regel.) Ich ließ folglich die Longlist immer häufiger Longlist bleiben und griff stattdessen zu vielen »Ausländern« (ausdrücklich nochmals der Verweis auf das Beknntnis aus dem vorigen Jahr).
Viele Holländer & Flandern (wie Joost Zwagerman und Saskia de Coster) tummelten sich auf meiner »Alternative-zum-Buchpreis-Liste«, nicht zuletzt wegen einer Pressereise ins Ehrengastland der diesjährigen Buchmesse (auch die war sehr schön, erlebnis- und erkenntnisreich). Vor allem einige US-Amerikaner kaperten mich und meine Lesestunden: Joshua Cohen mit Solo für Schneidermann (Schöffling & Co.), Callan Wink mit Der letzte beste Ort (Suhrkamp), John Wray mit Das Geheimnis der verlorenen Zeit (Rowohlt) und der 92-jährige Altmeister William H. Gass mit Mittellage (Rowohlt, Vorabfahnen, leider darf ich daher nichts verraten). Bei ihnen (auf Don DeLillo Null K (Kiepenheuer & Witsch) warte ich noch) fand ich, was ich bei den nominierten, deutschen Kollegen häufig und heftig vermisste. Bessere, intelligentere Plots, Figuren mit Ecken und Kanten, fies und liebenswert zugleich, mehr Innovation und literarisches Wagnis, mehr Experimentierfreudigkeit, bessere Sprache, klarer, dem Leser zugewandt und weniger selbstverliebt. Diese Romane forderten mich als Leser heraus, und zwar zum aufregenden Abenteuer, zum Nervenkitzel, nicht als Aufforderung (Herausforderung) zum qualvollen Sado-Maso-Lesen, wenn man gar keine Lust auf fremdzugefügte Schmerzen hat.
Ja, ich bin ungerecht und böse. Experimente gab es schließlich auch auf der Longlist. Aber Gerhard Falkner zum Beispiel, den ich als Lyriker (soweit ich mich mit Lyrik überhaupt auskenne) sehr schätze, hat sich in Apollokalypse (Berlin Verlag) zu Tode experimentiert. Obwohl Zeit und Ort der Handlung viel versprachen, ging mir nach der Hälfte des Romans der wahnhafte Zwang, Metaphern, Zitate, Anspielungen, Besserwissereien und Sprachspielchen in den Text zu hebeln einfach nur noch auf den Zeiger. Das wurde langweilig und langweiliger, schließlich habe ich die Lektüre abgebrochen (wie Constanze Matthes vom Blog Zeichen & Zeiten auch). Wie anders Joshua Cohen: da wimmelt es auch von Sprachspielen, Witzen, Ironie, Anspielungen und Verweisen, wird der Leser in einen lamoryanten, zornigen, hasserfüllten und resignierenden Endlosmonolog gezogen. Nur, brennt Cohen (genial übersetzt von Ulrich Blumenbach) ein sprachliches Brilianthöhenfeuerwerk ab und Falkner liefert Tischknallbonbons für Kinder. (Vor allem, wenn man bedenkt, dass Solo für Schneidermann das Romandebüt eines 25-jährigen war (wobei, dieser Hieb muss sein, der Verlag die Übersetzung des Originaltitels Cadenza for the Schneidermann Violin Concerto verhunzt hat (speziell, weil die wichtige sprachliche Nähe von Kadenz und Kaddish eliminiert wurde))).
Ist ein Roman lesenswert, bloß weil endlich mal jemand über Fußballhooligans schreibt? Vielleicht! Aber Hool von Philipp Winkler (Aufbau Verlag) ist mir einfach zu unentschlossen in seiner Absicht. Soll ich die armen Vandalen nun liebhaben, weil sie arme, von der Gesellschaft vernachlassigte, allerdings brutal prügelnde Teufel sind, soll ich mich einfach nur ekeln vor dieser Szene oder sie (im Abdrehen) verdammen? Für Letzteres brauche ich keinen Roman, danke, alles andere verrät mir Winkler leider nicht. Dieser Roman ist für mich beispielhaft in seinem Bemühen, originell und anders zu sein, als alles andere zuvor, kommt aber über die bloße Geste des »gewollt anders sein« nicht weit hinaus.
Vieles auf der Longlist (und auf der Shortlist), vieles in der aktuellen deutschsprachigen Gegenwartsliteratur überhaupt (Achtung! Ich überspitze!) wirkt auf mich leicht verschnarcht und betulich, ist stets strebsam bemüht bei aller Originalität doch »zwanghaft ausgewogen«, nett-korrekt, gefühlig zu sein. Vielleicht liegt es an unserm Land, unserer Zeit, der Merkelrepublik und ihrer Verfassung, dass die Themen der Literatur sind, wie sie sind, so grüblerisch, bedenkenträgerhaft und gemästet mit »German Angst«. Aber das meiste davon (zumindest auf der Nominiertenliste zum Buchpreis) spricht mich nicht an, packt mich nicht, regt mich nicht wirklich auf und an. Es langweilt einfach, ohne genau begründen zu können, warum. Schieres Vergnügem am Lesen will sich nicht einstellen, der persönliche Trigger, der sinnliche und intellektuelle Reiz fehlen mir.
Ein Gegenbeispiel? Callan Wink und seine Stories in Der letzte beste Ort haben mich förmlich umgehauen, geknebelt und gekidnappt. Das sind schnörkellose, geradaus erzählte ungeschönte Geschichten über Aussenseiter, Verlierer und Menschen, die ihre Träume begraben und ihre Ziele aus den Augen verloren haben. Aber sie leben weiter, müssen, weil sie nicht anders können. Und obwohl Winks Figuren in Montana leben und leiden, weit weg von meiner eigenen Lebenswirklichkeit, sind sie mir deutlich näher als viele Figuren in Geschichten aus Deutschland. Komisch, ist aber so, und liegt an der Art wie Wink schreibt: nämlich glasklar, »hard boiled«, direkt und brutal, aber immer mit Empathie und Hingabe für seine Protagonisten. Das hat mich im wahrsten Sinne des Wortes »umgehauen«. Wink schreibt »moderne Western« wie Winter’s Bone, No Country For Old Men oder Brokeback Mountain (wenn Quentin Tarrantino den gedreht hätte). Der letzte beste Ort habe ich in einer Nacht durchgelesen, atemlos und hellwach. Über Buchpreistitel dagegen bin ich sehr häufig (und schnell) eingenickt.
Die richtige Balance aus Ästhetik und Relevanz, um es mal hochgestochen auszudrücken, vermisse ich bei den meisten, nein, bei fast allen Buchpreistiteln. Die große Ausnahme (und Bestätigung der Regel) ist Thomas Melle und deshalb mein Favorit für den Buchpreis). Das ist meine persönliche Einschätzung, meine subjektive Momentaufnahme, keine objektive Analyse. Darauf weise ausdrücklich hin. Es musste einfach mal raus in die Welt, quasi als meine befreiende »Wutrede« zum diesjährigen Buchpreis. Die Einladung zur Preisverleihung am 17. Oktober in Frankfurt lasse ich nicht verfallen, ich gehe hin. Mit erhobenem (wenn auch zerwuscheltem) Haupt und neugierig auf die Siegerin oder den Sieger. Wenn sie mich nach diesem Beitrag noch reinlassen.
P.S.: Zu den Büchern von Joshua Cohen und Callan Wink werden in Kürze ausführliche Besprechungen folgen, auch Thomas Melle wird genauer ins Visir genommen. Solo für Schneidermann wurde ausführlich gewürdigt auch bei intellectures.
Foto: Ryan McGuire | Gratisography | Creative Commons Zero