Schneidermann ist der Jude der Musik und die Musik ist der Jude der Kunst – Sagt Schneidermann
Und so tretet vor,
denn ich bin wertlos, und die ganze Welt hat ihren Mentalapparat verschusselt,
hat Gebrausanleitungen und Erkennungszeichen verloren, und keiner weiß mehr, was gut ist und was nicht mehr,
und was würde das auch für eine Rolle spielen, wenn man’s wüsste?
Man möchte ihm zurufen: »Genug! Halt ein, hör auf!« Doch Laster redet weiter. Mitten im Konzert hat er seine Stradivari niedergelegt, genau an der Stelle, an der er eigentlich als Virtuose brilieren sollte. Doch statt einer meisterlich gespielten Kadenz liefert er dem Publikum in der vollbesetzten Carnegie Hall einen verbalen Angriff. Sein Solo für Schneidermann erstreckt sich über mehr als 500 Seiten.
Laster rechnet ab: mit sich und der Welt, mit seinen 6 Ex-Ehefrauen, seinen Kindern, seinen Geigenschülern, mit allen Enttäuschungen seines verkorksten Virtuosenlebens, mit seiner Existenz als Wunderkind, das zum musikmachenden Äffchen in einem geldgierigen Musikbusiness mutiert ist und er redet über seine Verluste. Sein letzter war der schwerste. Sein Freund Schneidermann ist verschwunden, er ist einfach aufgestanden in einer Matineevorstellung von Schindlers Liste und rausmarschiert, laut schimpfend darüber, dass ausgerechnet Mozarts Musik in einem Film über den Holocaust gespielt wird, in einem Film, der obendrein keine Farbe hat. Schneidermann verschwan, tauchte nie wieder auf, weder tot noch lebendig.
Mit Schneidermanns Violinkonzert sollte Laster das Publikum in der Carnegie Hall erfreuen, gespielt und interpretiert vom Freund des Komponisten, doch statt der Kadenz zum Konzert müssen nun alle Lasters Tiraden lauschen, seinem Kaddish für Schneidermann, seinem Abgesang auf den letzten verbliebenen Freund, der nun einfach so verschwand.
Schneidermann, der 90-jährige, obskure Komponist, der in einem heruntergekommenen Appartement in mitten seiner auf Notenaltpapier gebannten Werke verlottert, der wie ein Obdachloser durch die New Yorker Straßenschluchten streift, dieser Schneidermann kommentiert die Tragödie des 20. Jahrhunderts, nein, er verkörpert sie.
Schneidermann, der ungarisch-deutsche Jude, der Holocaustüberlebende, der Emigrant, der vom Flüchtling notgedrungen zum Amerikaner wurde, dieser Schneidermann räsoniert, schwadroniert, lästert, quängelt, schimpft und zetert über Geschichte, Musik, Philosophie, Theologie, Kunst, das Jüdischsein als Fluch und Segen und über die Shoah.
Auch Laster ist osteuropäischer Einwanderer und in seiner Suada verschmelzen Schneidermanns Leben und sein eigenes, dieser Redeschwall und damit der Roman besteht aus einer ebenso furios wie grandios komponierten Folge von freien Assoziationen über die Schwierigkeit über Musik zu schreiben, die Frage, was es heißt jüdisch zu sein, das Problem, erhabene von mittelmäßiger Kunst zu scheiden und über den Kampf des Individuums, dem geschwindem Pfeil der Geschichte zu trotzen oder ihn gar umzulenken. Unter allem liegt als Generalbass der Holocaust und das ungebremste Abgleiten in Antisemitismus und Rassismus des Amerikas der Mittfünfziger.
Laster, dieser Eindruck wird immer prägender, je weiter die Lektüre seiner Monologes voranschreitet, kann und darf nicht aufhören zu sprechen, denn im Moment des Innehaltens, würden seine Erinnerungen zu qualvoll, die Schmerzen zu unerträglich, die Enttäuschung zu übermächtig und seine Gedanken zu wirr, als dass er sie überhaupt noch verarbeiten könnte. Darin liegt Lasters Verwandschaft zu vielen Figuren Becketts, vor allem denen in der Romantrilogie von Molloy, Malon und dem Namenlosen. Auch für sie ist, wie für Laster, das Sprechen die einzige fundamentale Methode, den Abgrund fernzuhalten. Wie Beckett entwickelt auch Joshua Cohen dabei eine äußerst komische Sensibilität für das Niedrige und Körperliche.
Cohen hat Solo für Schneidermann ganz tief und fest in der Musik verankert. Nicht nur dass der Text ein wahres Feuerwerk von Anspielungen und Späßen zum Thema abfeuert, er ist selbst ganz und gar Partitur, voller Triller und Fiorituren, voller satter Akkorde und zarter Pianissimos. Bis in die Anordnung der Absätze und Einzüge, der Organistaion der Textblöcke und des Satzspiegels wirkt der an der Musik ausgerichtete Gestaltungswille, bis hinein in die unorthodoxe Methode der Interpunktion, die eher Atem- und Pausenzeichen setzt, als den Text grammatikalisch korrekt zu gliedern. Cohen hat Musik studiert, Klavier und Komposition, doch diese Kunst zugunsten der Schrifstellerei an den Nagel gehängt. Mit seinem Debütroman über Musik und Musiker hat er sich von der Musikerkarriere verabschiedet, einem Roman dessen Prosa gesprochene Musik ist.
»Achtung, Wunderkind!« Mit diesem Etikett lebt Joshua Cohen, seit 2007 sein Debütroman Cadenza For The Schneidermann Violin Concerto in den USA erschienen ist. Ihm waren zwei Bände mit Erzählungen vorausgegangen und bis heute folgten fünf weitere Buchveröffentlichungen nach, alle von der Kritik einhellig gefeiert. Sie stellte Cohen freimütig mit Titanen der US-Literatur wie Gaddis, Pynchon und Wallace auf eine Stufe. Zu recht! Deutschsprachigen Lesern stand bislang nur der Erzählungsband Vier neue Nachrichten (meine Besprechung hier) zur Verfügung, um das Urteil vom Wunderkind zu überprüfen. Der reichte aus, um die literarische Virtuosität Cohens in heftigen Schlaglichtern aufblitzen zu sehen. Jetzt, mit Solo für Schneidermann strahlt die Genialität dieses Schriftstellers auch bei uns hell und klar.
Wenn man mit 25 ein Buch über einen Neunzigjährigen schreibt, dann ist das ein spezielles Statement.
(Joshua Cohen)
Ulrich Blumenbach hat den Roman übersetzt, wie zuvor bereits die Erzählungen. Keine leichte Aufgabe, denn alle Anspielungen, Kalauer, Wortspiele und Witze des Originals waren unmöglich ins Deutsche zu retten. Cohen und Blumenbach haben eng zusammengearbeitet, viel miteinander gesprochen. Ziel war es, für ein Wortspiel, das an einer Stelle sterben musste, an anderer Stelle ein neues zu gebären, den Text als Partitur zu lesen und zu interpretieren. Das ist gelungen. Blumenbachs Übersetzung wird Cohens überbordender Prosa, seiner an Vokabeln und Wortneuerfindungen reichen Sprache mehr als gerecht. Lasters Rede ist gespickt mit Redundanzen, Wiederholungen und Echos, doch immer werden sie in neuen Worten und Wendungen vorgebracht. In Original und Übersetzung. Aus dem englischsprachigen Kunstwerk wurde ein deutschsprachiges. Das verdient großes Lob, sehr großes Lob.
Bei allem Spaß, den der Roman bereitet, im Kern ist Solo für Schneidermann eine furiose und zornige Fuge über den Untergang von Kunst und Kultur in einer barbarischen, materiellen Welt. Die Musik, die Kunst an sich, so Schneidermanns große These, ist der Jude der geistigen Welt, der Menschlichkeit. Und er, so Schneidermann, ist der Jude der Musik. Beide sind zur Tragödie verdammt, immer in Gefahr, irgendwann spurlos zu verschwinden. Als Jude in Europa geboren und verdammt, als Jude in Amerika zu sterben. Am Leben zu sein, ohne in einer Kultur zu leben, sagt Schneidermann einmal, sei eigentlich der Tod. Er, Schneidermann, sei schon seit 50 Jahren tot, er habe nur von 1650 bis 1950 gelebt, weil da seine Musik sich entwickelt und gelebt hätte. Der dreihundertjährige Schneidermann, geboren mit Bach in Leipzig, gestorben mit Schönberg in Los Angeles. Ins Exil verdammt, seitdem als Untoter der Musik gezwungen, weiterzuleben. Keine These ist Laster zu steil in seiner Wutrede, und die steilsten hat ihm zuvor Schneidermann geliefert, der ewig streifende Methusalem. Selten wurde bitterer Kulturpessimismus mit so aberwitzigem Verve vorgetragen wie hier von Joshua Cohen.
Am Ende des 15-stündigen Redemarathons zerschlägt Laster seine Geige in tausend Splitter, Polizisten führen ihn durch den Mittelgang nach draussen ins graue Morgenlicht. Der Spuk ist vorbei und Weihnachten steht vor der Tür. Sein Kaddish ist verhallt, sein Loblied und Abgesang auf Schneidermann, den alten Komponisten, der das jüdische Europa war, das Holocaustopfer, die Kultur, die Musik. Ein starker Auftritt, ein starker Abgang.
(Cadenza For The Schneidermann Violin Concerto)
Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach
Gebunden, 536 Seiten
Frankfurt/M.: Schöffling & Co. 2016
Weitere Informationen zum Buch und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlages
Notwendiger Exkurs: Ein Wermutstropfen muss dann doch in den schmackhaften Wein gemischt werden. Die Übersetzung des Titels hat der Verlag leider verhunzt in Solo für Schneidermann fehlen sowohl die direkte Verbindung zur Musik und der Verweis auf die Konzertsituation des Originals, als auch (und das wiegt ungleich schwerer) die lautmalerische und inhaltliche Nähe von Kadenz zu Kaddish. Was hat bloß gegen einen Titel wie Die Kadenz zum Schneidermann Violin Konzert gesprochen?! Und auch die Abbildung auf dem Cover ist mehr irritierend als wegweisend.
Der Verlag Schöffling und Co. will auch die weiteren Romane Joshua Cohens in deutschsprachigen Ausgaben herausbringen. Neben Ulrich Blumenbach sollen auch Marcus Ingendaay und Robin Detje als Übersetzer in Erscheinung treten. Alle Leser dürfen sich freuen. Hier als PDF ein Verlagsprospekt zu Joshua Cohen.
Bildnachweis: Porträt von joshua Cohen (2010) | Foto von David Shankbone | CC-BY-3.0 | Quelle: Wikimedia Commons