Auf dem Berg im goldenen Käfig – »Wir & ich« von Saskia de Coster
Die Familie, sagt man, ist die kleinste Einheit im gesellschaftlichen Ordnungssystem und übernimmt entscheidende Funktionen der Sozialisation. Sie ist im kleinen prägend für das große Gesamte. In Wir & ich spielt Saskia de Coster exemplarisch durch, was passiert, wenn eben die funktionalen Prozesse in der Kernzelle der Gesellschaft grundlegend gestört sind. In diesem Roman sind Vater, Mutter, Kind drei Brennelemente in einem Reaktor kurz vor dem Heißlaufen.

Der Familie Vandersanden mangelt es an nichts. Mutter Mieke stammt aus altem Geldadel, Vater Stefaan hat sich als Sohn einer Arbeiterfamilie strebsam hochgearbeitet zum leitenden Vorstand eines Pharmaunternehmens und mit der Geburt von Töchterchen Sarah ist das Glück vollkommen. Die Familie lebt auf dem Berg, einer Villensiedlung am Rande eines kleinen Ortes in Flandern. Schmuck reihen sich hier die Häuser der Privilegierten in gebührenden Abstand auf, dazwischen bleibt stets genug Platz für große Gärten, Swimmingpools, Tennisplätze und dem ziemenden Abstand zu den Nachbarn. Der Berg ist eine Ansammlung goldener Käfige und in einem leben die hoffnungslos verkorksten Vandersandens.
Die hochneurotische Mieke gestaltet das Haus als perfektes Abziehbild aus Schöner Wohnen, sie sorgt für penible Reinraum-Atmosphäre und kämmt zwanghaft die Fransen der Teppiche, sobald Konflikte auftauchen. Stefaan vergräbt sich in seine Arbeit oder zieht sich sich in seinen Gartenschuppen zurück. Tief im Inneren des Kokons, den er sich um seine Seele webt, steckt ein Trauma der Kindheit. Doch reden möchte er nicht über das dunkle Gehimnis, wie sein kleiner Bruder damals ums Leben kam. Sarah rebelliert. Sie möchte Musikerin werden, schreibt Songs, gründet eine Band, markiert die noble Punk-Braut aus der Vorstadt und verbringt ihre Freizeit ausschließlich im Heim ihrer Freundin, einem heruntergekommenen Adelssitz, der von einem bunten und libertinen Künstlerkreis bevölkert wird. Doch auch diese Flucht birgt keine Lösung der Probleme in der eigenen Familie.
Weitere Gegenentwürfe der goldenen Idylle, die zum Gefängnis mutiert, entwerfen Oma Moemoe, Stefaans Mutter, und Miekes Bruder Jempy. Sie bringen Leben in die Bude, weil sie auf Konvention, Konformität und auch auf Anstand pfeiffen. Doch die Oma stirbt früh und Jempy, frisch aus dem Knast entlassen, setzt sich als Weltenbummler mit schnell wechselnden Freundinnen schnell wieder ab.

Das Leben der Vandersandens wird in Wir & ich über mehrere Jahrzehnte protokolliert, von der Geburt Sarahs im Jahr 1980 bis in die Gegenwart. Die einzelnen Mitglieder der Familie verlieren im Lauf der Jahre zunehmend die Fähigkeit, sich zuzuhören, zu verstehen und sich gegenseitig Trost zu spenden. Wie vernagelt folgen sie dem Plan, alle Fehler, die ihre Eltern begangen haben, selbst zu vermeiden und rutschen doch in die gleichen Muster. Am Ende steht lähmende Sprachlosigkeit. Mieke und Sarah drücken das weg, aber Stefaan leidet mehr und mehr unter der goldenen Fassade. Frau und Tochter werden ihm immer fremder. Er beobachtet seine Familie nur noch aus der ersten Reihe, obwohl er doch mittendrin sein müßte. Er, der Kontrollfreak, will alles im Griff behalten, aber je fester er zupackt, desto mehr entgleitet ihm das Leben. Bei seiner Suche nach Sinn und Ziel manovriert Stefaan sich immer tiefer in Melancholie und Trauer. Als er seine Verzweiflung nicht mehr weiter kaschieren kann, kommt es zur Katastrophe. Mutter und Tochter nähern sich dadurch zwar wieder an, aber bleiben letztlich doch allein. Die Konsequenz: sie lassen endlich voneinander los.
Dass Saskia de Coster hier über Gebühr mit Klischees arbeitet, könnte ihr sträflich vorgeworfen werden, würde sie nicht durch formale und sprachliche Kniffe eben diese Klischees geschickt brechen und überformen. Da ist zunächst der ironische Grundton, der das überspannte Agieren der Figuren ad Absurdum führt und ins Gegenteil verkehrt. Noch wichtiger ist die Wahl der Erzählperspektive, genauer der Perspektiven. Die einzelnen Kapitel sind abwechselnd aus der Sicht Stefaans, Miekes und Sarahs erzählt. besonders aufschlussreich wird das, wenn sie überschneidend gleiche Episoden unterschiedlich bewerten. Abgelöst von den Akteuren taucht »Wir« auf, eine ominöse Erzählinstanz, die sich mal wie ein allwissender Erzähler geriert, mal wie ein griechischer Chor in die Handlung mischt oder nur distanziert beobachtet und analysiert. »Wir« zielt auf die internen Beziehungen der Familie, in der ein »wir« nie wirklich entwickelt wird. In den Wir-Kapiteln lugt der Leser schwindelnd in die Abgründe, die alle anderen zu verbergen suchen
Sehr zugespitzt präsentiert Saskia de Coster ihr Familienporträt, ohne je unrealistisch zu werden. Die Bitternis der Figuren, die immer deutlicher zu schmecken ist, je weiter der Roman vorandringt, ist kaschiert und überzeichnet. Das ähnelt sehr Pedro Almodovars überspannten Filmdramen oder den Royal Tennenbaums von Wes Anderson. Die Figuren sind überdreht, comichaft und fremd. Aber je länger man sie beobachtet, desto verzweifelter, zarter und verletzlicher werden sie und damit desto liebenswerter. Stefaan, Mieke und Sarah mögen zu Beginn wirken wie Stereotypen, doch im Verlauf des Romans legt ihre psychologische Zeichnung immer feinere Strukturen und Schattierungen frei; sie rücken näher, sie berühren und verdienen Mitleid. Wir & ich ist keine Soap: die Story schlägt einen belastbaren Bogen in die Realität, ist glaubwürdig und aus dem persönlichen Umfeld vieles allzu vertraut und bekannt.

Wenn, wie eingangs gesagt, die Familie eine der Kernzellen der Gesellschaft ist, dann zeichnet Saskia de Coster mit den Vandersandens nicht nur das Porträt einer disfunktionalen Familie, sondern auch das einer Gesellschaft, die den schönen Schein fordert, die im Streben nach Perfektion alles was nicht geplant und vorhersehbar ist, alles was schmerzt und verletzt, auzublenden versucht und verdrängt. Doch ein Leben ohne Schmerz und Verletzung ist eine Illusion, die im Ende nur Lügen und Selbstlügen produziert.
Saskia de Coster ist in Flandern eine bekannte Schrifstellerin, nicht zuletzt weil sie sich meinungsfreudig mit Zeitungsartikeln und Interviews in politische und gesellschaftliche Diskussionen einschaltet. Sie hat mittlerweile sechs Romane geschrieben, Wir & Ich ist der erste, der ins Deutsche übersetzt wurde, sehr gut übrigens von Isabel Hessel. Der Schauplatz ist Flandern, aber die Geschichte könnte überall spielen, denn regionale Eigenheiten sind kaum zu finden. Wir & ich hält dem vielfach gezogenen Vergleich mit Jonathan Franzens Korrekturen locker stand und ist ein sehr lesenswerter Familien- und Gesellschaftsroman.

Aus dem Niederländischen von Isabel Hessel
Gebunden, 409 Seiten
Stuttgart: Tropen Verlag (bei Klett-Cotta) 2016
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Bildachweis: Villen, fotografiert von Paolo Monti | Quelle Wikimedia Commons | CC-BY-SA-4.0 — Buchcover: Verlag Tropen/Klett-Cotta