Ein Mann mit Hut und fehlendem Knopf – »Stilübungen« von Raymond Queneau
Raymond Queneau erzählt eine Gechichte. Er erzählt sie nicht einmal, zweimal oder dreimal, nein, er variiert sie mehr als 120 mal. Muss eine sehr spannende Geschichte sein? Weit gefehlt, denn es pasiert eigentlich nichts von Bedeutung. Hier ist die Gechichte notiert:
Im S, zur Stoßzeit. Ein Typ, ungefähr sechunszwanzig, weicher Hut mit Kordel statt Band, zu lnger Hals, als hätte jemand dran gezogen. Leute steigen aus. Besagter Typ regt sich über einen der Nebenstehenden auf. Der remple ihn jedes Mal an, wenn einer vorbeiwolle, beschwert er sich. Weinerlicher Ton, der aggressiv klingen soll. Er sieht einen freien Platz, springt hin.
Zwei Stunden später sehe ich ihn auf der Cour de Rome vor der Gare de Lazare. Er steht mit einem Freund da, der zu ihm sagt: »Du solltest dir einen zusätzlichen Knopf an den Mantel nähen lassen.« Er zeigt ihm wo (am Ausschnitt) und warum.
Raymond Queneau interessieren in seinen Stilübungen nicht die Inhalte, sondern einzig die Form. Die Stilübungen sind ein fortlaufendes Experiment mit der Sprache und ihren Möglichkeiten. Sprache teilt nichts mehr mit, sondern hat nur noch sich selbst als Wert. Das Spiel mit der Form ersetzt den Inhalt. Das ist alles andere als »furztrocken«. Das ist hochintelligent und vor allem saukomisch.
Wie jedes Spiel haben auch die Stilübungen feste Regeln. Queneau unterwirft die kurze Episode von dem Mann im Bus der Linie S und seiner späteren Begegnung mit einem Bekannten vor dem Bahnhof literarischen, linguistischen, umgangssprachlichen, thematischen, formalen und mathematischen Vorgaben.
Im S, zur Oißstetz, tupisdierte ein Pyt von ungefähr zwechsunzangis Hanreej, der einen gnalen nünden Suhl und einen drokel- statt dangbeschünkten Thu hatte…
Das reicht, wie hier, vom Anagramm über das Lipogramm, Lautmalereien und Aphorismen bis hin zu Wahrscheinlichkeitsrechnungen und mathematischen Permutationen von Gruppen mit vorgegebener Buchstabenanzahl, die letztlich in purer Unverständlichkeit auslaufen.
Entscheidend ist, dass das Erzählen der Geschichte nicht auf eine Haltung oder einen Stil festgelegt wird. Es geht immer auch anders. Mal ist diese Haltung sehr spezifisch und wird im Titel benannt (Zögernd, Beleidigend, Reaktionär usw.). Sie liefert mit glaubwürdiger Erzählstimme literarische Miniaturen im klassichen Sinn. In anderen Übungen ist der Stil, gewissermaßen als Ausformung eines Subgenres, prägend (Schauerroman, Ode, Klappentext, Amtliches Schreiben usw.). Eine dritte Gruppe spiegelt bestimmte Blicke auf die Welt: von Berufsgruppen (Gastronomen, Schneider usw.) oder Wissenschaften (Botanik, Medizin, Zoologie usw.). Wenn schmückende Stilmittel wie etwa Metaphern, die eigentlich zur behutsamen Aufwertung von Textstellen gedacht sind und die in der Regel sparsam eingesetzt werden, plötzlich gehäuft auftreten, verlieren sie jeglichen Glanz und rutschen ab in die Lächerlichkeit.
Im Zenit des Tages predigte in einem Käfer mit weißlichem Unterleib, der als Dose für reisende Sardinen diente, ein Hähnchen mit gerupftem Langhals überfallartig einer friedlichen unter ihnen, und seine Worte entfalteten sich klagefeucht in den Lüften. (…)
Raymond Queneau, geboren 1903, schloss sich in den 1920er Jahren zunächst den Surrealisten an, verließ die Gruppe aber bald wieder. Doch er blieb zeitlebens fasziniert von literarischen Spielen und Parodien. 1960 gehörte er zu den Gründern der Gruppe Oulipo (Ouvroir de littérature potentielle), in der sich an formalen Experimenten interessierte Schriftsteller vereinigten. Prominente Mitglieder waren unter anderem Georges Perec, Oskar Pastior, Italo Calvino und Marcel Duchamp.
Die ersten Stilübungen hat Queneau jedoch bereits viele Jahre zuvor verfasst. Sie entstanden 1942 in Paris unter deutscher Besatzung, und er veröffentlichte sie in loser Folge in Resistance-Zeitschriften. 1947 erschienen 99 Exercises de style in Buchform. Queneau hat danach weitere Übungen verfasst, auch eingesandte Texte von Lesern fleißig gesammelt und sogar Listen mit möglichen Übungen ausgearbeitet.
Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel haben das alles nun neu übersetzt. Nicht etwa weil Eugen Helmlé und Ludwig Harig im Jahr 1961 mit ihrer Übersetzung der 99 Übungen der französischen Erstausgabe falsch lagen. Im Gegenteil, diese Übersetzung würdigen Schmidt-Henkel und Heibert in ihrem instruktiven und infrormativen Nachwort ausdrücklich als wegweisende Pioniertat. Doch weil Übersetzungen nun einmal den literarischen Gewohnheiten und Tradtionen ihrer Zeit folgen, altern und veralten sie. So ist es kein Frevel, Helmlés und Harigs Arbeit nach mehr als vier Dekaden zu überprüfen und anzupassen. Und weil in der Neuausgabe der Stilübungen viel zusätzliches Material aufgenommen wurde, lag es nahe, alles von Grund auf neu zu übertragen, damit der Klang einheitlich ist. Heibert und Schmidt-Henkel betonen ausdrücklich, dass es ihnen (und literarischen Übersetzungen heute grundsätzlich) weniger darum gehe, sprachliche Strukturen beizuhalten als den charakteristischen Ton des Originals mit den Mitteln der Zielsprache nachzuschaffen.
Queneaus Stilübungen sind längst ein Kultbuch, geliebt und verehrt vor allem von Linguisten und Literaturwissenschaftlern. Es ist höchste Zeit, dass alle Leser den Spaß an diesen Sprachspielen (wieder) entdecken. Neben aller sprachlichen und formalen Brillianz, die Queneau in seinen Übungen an den Tag legt, gilt es vor allem den Humor zu genießen. Das kindliche Vergnügen am Jonglieren mit Worten und Stilen, den überbordenden Witz, der hinter dem streng formalen Gerüst hervorlugt. Am besten geht das übrigens, wenn die Texte laut gelesen werden. Nachdrücklich belegen Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel in diesem Video die performative Wucht der Queneauschen Fingerübungen.
Verwiesen sei hier noch einmal auf die Entstehungszeit der ersten Texte. Queneau schrieb sie unter deutscher Besatzung in Paris, also in einer Zeit, die bestimmt war durch Zwang, Restriktion und strenger Ordnung. in den Stilübungen greift Queneau diese strikte Regelhaftigkeit auf und führt sie beinahe anarchistisch ad absurdum. In diesem Sinne darf das Aufbegehren gegen vorgegebene Strukturen in den Exercices de style durchaus auch politisch und gesellschaftlich gedeutet werden. Queneau übererfüllt die eigenen Vorgaben und hinterfragt sie gleichzeitig. Nicht selten fügt er in seine Übungen subtile Brüche der selbst gesetzten Regeln ein. In totalitären Zeiten war das Spiel mit Zwang und starren Regeln auch ein Akt der Befreiung. Nur wer sehr aufmerksam liest, merkt, wie subversiv der Autor die eigenen Vorgaben unterläuft. Die Stilübungen lehren uns, hellwach und konzentriert zu bleiben. Dann spüren und erkennen wir, wo in der Regelhaftigkeit die Freiheit sitzt. Denn: bei allem spielerischen Übermut und Witz ist Queneau auch sehr ernsthaft.
Ich autoplattformte mitmenschmenghaft in einer luteciomittäglichen Raumzeit und nachbarte mit einem rotzmäßigen tressebehuteten Langhals. Dieser sagte zu einem Irgendanonymen: »Sie tempeloffenbaren mich.« Nachdem er das ausgestoßen, freiplatte er sich begierig.
In einer späteren Raumzeitlichkeit sah ich ihn wieder, er placesaintlazarte mit einem X, der zu ihm sagte: Du solltest deinen Mantel knopfergänzten. Und ihm die Sache warumerklärte.
Der erweiterten und vollständig neuübersetzten Ausgabe der Stilübungen hat Suhrkamp eine adäquate Ausstattung spendiert. Das Bändchen, ein Großformat aus der Bibliothek Suhrkamp mit Fadenheftung, edlem Papier und feiner Ausstattung, hat allenfalls ein Manko: es fehlen die französischen Originale. Eine zweisprachige Ausgabe war anscheinend aus lizenzrechtlichen Gründen nicht drin.

Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel
Gebunden, 224 Seiten
Berlin: Suhrkamp Verlag 2016 (=BS 1495)
Mehr Infos und eine Lesprobe bei Suhrkmap.de
Auch Marina Büttner hat Queneaus Stilübungen auf ihrem Blog literaturleuchtet besprochen.
Der Süddeutschen Zeitung haben Heibert und Schmidt-Henkel einen Einblick in ihre Übersetzerwerkstatt gewährt. »Interview: Mein anderes Ich«
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