Rasenballsport in Frankreich – Mit Roland Barthes in der Halbzeitpause auf den Turm
Wenn ab heute Fußballeuropa nach Frankreich blickt, fliegen durch alle Medien nicht nur Bälle, Schlachtrufe und Jubelschrei, sondern auch Bilder eines Symbols aus Eisen. Der Eiffelturm steht als ubiquitäres Symbol für Paris, Frankreich und sich selbst. Natürlich ist er in allen Trailern zur Fußball-EM, in den allfälligen Drumherumberichten und Side Storys zu entdecken. Zu seinen Fußen feiern die Pariser auf der größten Fanmeile des Landes den Fußball, ihre Grand Nation und ihre Metropole.
Wer in der Halbzeitpause mehr diskutieren möchte als Vierketten, falsche Sechser, hängende Spitzen und echte Neuner, der greife zu dem Suhrkamp-Bändchen Der Eiffelturm, kaum größer als eine rote Karte, und beginne mit Roland Barthes den Aufstieg und die Dekonstruktion.

Maupassant aß häufig im Restaurant des Eiffelturms zu Mittag, obwohl er den Turm nicht mochte. »Es ist die einzige Stelle in Paris, von wo ich ihn nicht sehe«, pflegte er zu sagen.

So beginnt Roland Barthes seinen Essay über »Eiffels Monstrum«, das Paris überragt und das anfangs von Niemandem gewollt, geschweige denn geliebt wurde. Was zunächst als eindeutiges Zeichen ingenieurtechnischer Potenz anläßlich der Weltausstellung 1.000 Fuß hoch aus dem Boden wuchs, wurde im Lauf der Zeit, die geprägt ist von Gewöhnung und alltäglicher Betrachtung, zum mehrdeutigen Symbol. Allein weil der Turm unübersehbar ist, egal aus welcher Himmelsrichtung man Paris überblickt, mußte er mit Bedeutung aufgeladen werden.
Zeitlebens spiegelte und überprüfte Roland Barthes seine theoretischen Gedankenketten am Alltaglichen, an dem, was den Massen vertraut war und sich massenwirksam in Szene setzte. Der Essay über den Eiffelturm aus dem Jahr 1964 bildet da keine Ausnahme, und er gehört bis heute zu den bekanntesten und einflussreichsten. Für diese geistreiche, unterhaltsame und überaus witzig-überraschende Abhandlung darf ohne schlechtes Gewissen eine Halbzeit geopfert werden (oder drei Halbzeitpausen). Barthes gilt der Turm als unersetzliches Objekt, durch den hindurch der Mensch die Funktion der Imagination ausübt, die nichts anderes als seine Freiheit ist.
Blick, Objekt, Symbol, der Eiffelturm ist alles, was der Mensch in ihn hineinlegt. Als betrachtendes und betrachtetes Schauspiel, nutzloses und unersetzbares Bauwerk, vertraute Welt und heroisches Symbol, Zeuge eines Jahrhunderts und immer wieder neues Monument, unnachahmbares und unablässig reproduziertes Objekt, ist er das reine Zeichen, offen für alle Zeiten, für alle Bilder und alle Bedeutungen, die ungehemmte Metapher.
Roland Barthes zerlegt den Eiffelturm, dechiffriert ihn als mythologisches, symbolisches und historisches Zeichen. Er schaut genau hin, betrachte ihn aus der Ferne und der Nähe, zeigt und hinterfragt, strukturalistisch und poetisch zugleich. Die Quintessenz des Turmes ist, ein »leeres Symbol« ohne Bedeutung zu sein, das mit allem gefüllt werden kann. Der Eiffelturm ist alles und nichts. Jetzt auch Metapher für ein Fußballturnier, für ein vier Wochen währendes Fest des Spaßes und des Kommerzes. Der Turm wird’s überleben, wie er bislang alles überlebte.
Der kleine Text bringt großen Gewinn. Wer Barthes geistreich-unterhaltsames Essay gelesen hat, wird den Turm mit anderen Augen betrachten als zuvor.

Mit zeitgenössischen Abbildungen
Aus dem Französischen von Helmut Scheffel
Broschur, 80 Seiten
Berlin: Suhrkamp Verlag 2015

Auf den Webseiten des Suhrkamp Verlages: Eine Lesprobe aus Der Eiffelturm von Roland Barthes.
Nach dem Abpfiff immer noch Lust auf Fußball? Dann empfehle ich eine Verlängerung mit Fußball von Jean-Philippe Toussaint (aus dem Französischen von Joachim Unseld, erschienen in der Frankfurter Verlagsanstalt). Dazu Herwig Finkeldey: »Er erzählt vom Rausch des Fußballs, der Dämonen bändigt, Depressionen heilt und die Zeit zum Stillstand bringt.« Der vollständige Artikel bei tell und die Verlagsseite zum Buch. Eine weitere Besprechung kommt von Florian Pittroff im Blog Sätze & Schätze.
Bildquellen: Eiffelturm-Souvenirs von Ximeg CC-BY-SA-3.0 | Wikimedia Commons & Eiffelturm von Benh Lieu Song CC-BY-SA-3.0 | Wikimedia Commons