Aus langer Kriegsgefangenschaft zurück – »Durchbruch bei Stalingrad« von Heinrich Gerlach
Noch ein Buch über Stalingrad, ausgerechnet jetzt? Können, sollten, müssen wir das tatsächlich lesen? In diesem Fall unbedingt! Denn Durchbruch bei Stalingrad von Heinrich Gerlach ist kraftvoll und stark, weil dem Roman alles fehlt, wirklich alles, was andere Antikriegsromane und Fronterlebnisberichte geprägt hat. Genau das, was fehlt, macht Durchbruch bei Stalingard zu einem einzigartigen und aufwühlenden Dokument.
Durchbruch bei Stalingrad ist authentisch, kompromisslos, frei von Selbstzensur und dem Bestreben, nachträglich Sinn zu stiften. Der Roman verzichtet auf idelogische Verbrämung, er erklärt und moralisiert nicht in der Rückschau. Landserromantik und Kitsch ist Gerlach ebenso fremd, wie das gängige Nachkriegsklischee der schuldlos geopferten Wehrmachtsarmeen. Durchbruch bei Stalingrad beschreibt aufs schonungsloseste, was aus Menschen wird, die sich an Gewalt gewöhnen, wie sich im permanenten Ausnahmezustand alle Wahrnehmungen und Empfindungen verschieben ohne ein Zurück, wie Tot und Gewalt jeden Zweck verlieren, zum Selbstzweck mutieren.
Wer schreibt hier?
Heinrich Gerlach hat als Oberleutnant die Hölle von Stalingrad selbst durchlebt. Der Offizier, im Privatleben Studienrat für Latein und Deutsch, überlebte schwer verletzt und geriet in sowjetische Kriegsgefangenschaft, beteiligte sich 1943 an der Gründung des Bundes Deutscher Offiziere und schrieb für die Zeitung Freies Deutschland zahlreiche Artikel, die sich klar gegen Hitler positionierten und für ein Ende des Krieges und der Barberei aussprachen. Wegen dieser Aktivitäten, die maßgeblich von deutschen Exilkommunisten angeschoben und gesteuert wurden, und die später alle als führende Persönlichkeiten der Staats- und Parteiführung die DDR aufbauen sollten (Ulbricht, Pieck, Weinert u.a.), wurde Gerlach in Abwesenheit vom Reichskriegsgericht 1944 zum Tode verurteilt und seine Familie in Sippenhaft genommen.
Im Gefangenenlager seine Kriegserlebnisse und die seiner Kameraden in einem Roman zu verarbeiten, war Gerlachs einzige Möglichkeit, das Trauma des Krieges zu verarbeiten. Es entstand ein Manuskript, das in langer, mühevoller Arbeit mehrfach um- und neubearbeitet wurde. Als Gerlach 1950 schließlich aus der Gefangenschaft frei kam, konfiszierte der Sowjetische Geheimdienst diesen Roman. In den Augen der Sowjets entsprach Gerlachs Text in keinem Punkt ihren eigenen ideologischen Bestrebungen und Vorstellungen. Das Originalmanuskript verschwand für Jahrzehnte in einem sowjetischen Geheimarchiv.
Unter Hypnose, das Experiment wurde von Zeitschrift Quick finanziert und auflagenträchtig ausgeschlachtet, konnte Gerlach später Fragmente seines Textes rekonstruieren. Davon ausgehend schrieb er den Roman ein zweites Mal, es war ein schmerzvoller Prozess, wie seine Kinder berichten. Die verratene Armee erschien 1957 im Nymphenburger Verlag und wurde ein Bestseller. Heinrich Gerlach starb im März 1991 in Brake, er wurde 83 Jahre alt.
Das Original taucht wieder auf
Der Literaturwissenschaftler Carsten Gansel hat im Februar 2012 Gerlachs Originalmanuskript im Staatlichen Militärarchiv in Moskau wiedergefunden. In Wolfgang Hörner, Verleger beim Galiani Verlag, fand er einen Partner, der sofort bereit war, es zu veröffentlichen. Gansel hatte ursprünglich nur die Neugier angetrieben, Original und Zweitversion literaturwissenschaftlich zu vergleichen. Doch als er das Manuskript Gerlachs las, merkte er schnell, dass vor ihm ein bedeutendes, auch für Historiker enorm aufschlussreiches Dokument lag. Der Grund liegt in der unmittelbaren Aufzeichnung.
Gerlach schrieb unter dem direkten Eindruck der Ereignisse, er lenkte ohne zeitlichen Abstand traumatische Erlebnisse in epische Strukturen. »Nichts in diesem Buch ist erfunden«, schreibt Gerlach in einem kurzen Nachwort. »Alles, was die Romanhandlung als Begebenheiten schildert, ist irgendwann und irgendwo auf den Schneefeldern vor Stalingrad und in den Trümmern der Stadt einmal Wirklichkeit gewesen.« Traumatisierte sprechen gewöhnlich nicht, Gerlach tat es, sofort und ehrlich. Erinnerung funktioniert nur aus der Gegenwart, die Jetztzeit präformiert das Erzählen. Je größer der Abstand zum Erlebten wird, desto verfälschter erscheint die Beschreibung. Anders als Texte, die mit deutlichem Abstand zum Krieg in den 50er Jahren niedergeschrieben wurden und die vordergründig der gegenseitigen Bestätigung von Erfahrung dienten, also reflektiv kommunizierten, Gerlachs zweite Version eingeschlossen, sind in Durchbruch bei Stalingrad diese nachträglichen Filter der Reflexion, mögliche Selbstzensur und Selbstvergewisserung und ein durch Zeit und Gesellschaft diktiertes Opfernarrativ vollständig ausgeklammert. Nicht Hitler allein war verantwortlich für den brutalen Krieg in Russland und das Gemetzel in dem die 6. Armee in Stalingrad vernichtet wurde. Gerlach zeigt, dass auch die Generäle und Offiziere der Wehrmacht, nicht alle, aber viele, Mitschuld tragen.
Brutale Schläge, ungeheure Wucht
Oberleutnant Breuer durchlebt und durchleidet (als Alter Ego Gerlachs) den Kessel von Stalingrads. Alle Akteuere und Orte sind präzise benannt. Die Kriegsgeschehen wird im Präsens geschildert, wuchtig direkt und unmittelbar. Die Sprache ist elliptisch, zerhackt und die Dialoge sind geprägt von hartem, ruppigem Landserdeutsch. Gerlach hat mit sicherem Gespür Figurenkonstellationen entwickelt, die alle Bereiche, alle Ränge der Wehrmmacht einschließen. So ist er in der Lage, eine umfassende Abrechnung vorzulegen, die nichts ausspart. Auch das Leiden des Feindes, der Soldaten der Roten Armee, wird geschildert und gewürdigt.
Der Roman zieht den Leser hinein ins Kriegsgeschehen, man ist betäubt, selbst im Ausnahmezustand und fühlt beinahe physisch, wie alles Menschliche abfällt. Gleichzeitig ist Gerlachs ordnende Kraft beeindruckend. Alle Figuren werden konsequent zu Ende erzählt, keine geht verloren, selbst wenn sie zwischenzeitlich verschwinden. Die Handlungsstränge zerfasern nicht, auch wenn sie hier und da etwas langatmig geraten, sich mitunter im Nebensätzlichen verlieren.
Durchbruch bei Stalingrad zeigt eine enthemmte Wehrmacht, die auch Verbrechen begeht. Doch anders als in der zweiten Fassung wird im Original dies nicht zusätzlich erläutert oder gar relativiert. Beispiel: In einer Szene erschiessen Soldaten wahllos Juden, wie im Rausch. Ein Offizier schreitet ein und unterbindet barsch die Erschießungen. Nicht weil er ein Unrecht sieht und sanktioniert, sondern nur, weil er Disziplinlosigkeit feststellt und Verschwendung von Munition. In der zweiten Fassung unterfüttert Gerlach dieselbe Szene dann mit moralischer Reflexion. Der Offizier erscheint hier als Träger ethischer Bedenken, der Verbrechen abwendet und nicht einfach Disziplinlosigkeit maßregelt. Gerlach dichtet einen Hauch vom guten Menschen hinzu, obwohl der nicht da war. Das ist der Zeit geschuldet. Was 1946 nicht erklärt werden musste, weil jeder Soldat im Gefangenenlager wußte, was Sache war, läßt sich gut 10 Jahre später nicht mehr ohne zusätzliche Erläuterung wiedergeben.
Der historische Wert
Der Zeitzeuge ist der Feind des Historikers, heißt es. Der Historiker sucht objektive Erkenntnis und Fakten. Der Augenzeuge aber berichtet subjektiv und ausschnittshaft. Das Dilemma liegt in der Diskrepanz zwischen beiden Haltungen. Die Geschichtswissenschaft ist auch auf Augenzeugenberichte angewiesen. Der Historiker Jörg Baberowski hat bei der Buchpremiere im März Gerlachs Roman in der Originalversion hohe Qualitäten auch für die historische Forschung bescheinigt. Durchbruch bei Stalingrad sei eines der raren Dokumente, die mit Wucht, Ehrlichkeit und höchst schonungslos Zeugnis ablegen vom Schlachten im Zweiten Weltkrieg, ohne Details zu verfälschen, Mythen zu befeuern und Rechtfertigungen zu liefern. Einen solchen Roman zu lesen, so Baberowski, sei etwas anderes, als wenn wir im didaktischen Gestus heute darüber sprechen würden, wie schrecklich Kriege seien. Gerlach liefere authentisches Erleben eines Mannes, der dabei war, und es unmittelbar und ungefiltert – nahezu direkt im eigentlichen Erleben – schriftlich festhält. Baberwoski bezeichnet Gerlachs Bericht als das brutalste und ehrlichste, was er in den 15 Jahren, in denen er sich als Historiker mit der Brutalität der Kriege beschäftige, je gelesen habe.
Neben dem schmerzhaft-beklemmenden Roman Gerlachs liefert die vorliegende Ausgabe en passent gleich noch ein zweites Buch mit. In einem gut 180 Seiten starkem Anhang berichtet Herausgeber Carsten Gansel ausführlich über seine Recherchen und den Fund des Manuskriptes in den lange Zeit verschlossenen Archiven. Daneben wird Heinrich Gerlachs Biographie, seine Odyssee durch verschiedene Straflager, sein umständlicher und letztlich vergebener Versuch der Rekonstruktion des Romans geschildert und sehr ausführlich und kenntnisreich seine Rolle im Bund Deutscher Offiziere und im Nationalkomitee Freies Deutschland gewürdigt. Wissenschaftlich exakt, mit allen Belegen und Quellenangaben zum weiterlesen und weiterforschen.
Dass Durchbruch bei Stalingrad inzwischen die vierte Auflage mit rund 25.000 verkauften Exemplaren erreicht hat, beweist wie wichtig und gewichtig dieses Buch ist. Vielleicht gerade jetzt.
Herausgegeben, und mit einem Nachwort
und dokumentarischem Material versehen von Carsten Gansel
Gebunden, 704 Seiten
Berlin: Galiani Verlag 2016
Für weitere Recherchen: Das Bundesarchiv gibt auf seiner Webseite Einblick in historische Dokumente, Karten und Fotos zur Schlacht von Stalingrad.
Stalingrad – Teil 1 | Stalingrad – Teil 2
Foto: Deutscher Soldat in Stalingrad. Bundesarchiv, Bild 116-168-618 / CC-BY-SA 3.0 | Wikimedia Commons