Frohburg lesen (2) – Von der Kraft des Erzählens
Ich bin auf die Zielgerade eingebogen und befinde mich auf den letzten Metern kurz vor dem finalen Sprint. Etwas mehr als 900 von 1007 Seiten liegen hinter mir. Es hat gedauert, weil ich als Paralleleleser andere Bücher dazwischen geschoben habe. Aber Frohburg blieb immer beachtet und hat alle Erwartungen erfüllt und übertroffen. Dieser Roman beschert große Lesemomente und ist kein bisschen zu lang.
Frohburg ist Heimatroman und privates Erinnerungsarchiv (siehe; Frohburg lesen (1)). Gleichzeitig schreibt Frohburg deutsche Geschichte und füttert das kollektive Gedächtnis. Nebenbei erzählt der Roman viel über das Erzählen an sich und setzt der Kunst der mündlichen Überlieferung ein schriftliches Denkmal.
Erzählen als Fundament und Kapital
Vespers Material entspringt seiner lebenslangen Tätigkeit als Sammler, das Material ist sein Leben und vice versa. In einem achtjährigen Schreibprozess hat er es an- und umgeordnet. Frohburg ist ein schroffes Sandsteinmassiv, ein Erinnerungssediment, zigfach geschichtet, und gefaltet. Durch dieses Gebirge ziehen sich Lebensadern, denen spürt Vesper nach und löst Quader um Quader aus den Verwerfungen und Faltungen, schichtet und verfugt sie. Frohburg ist ein großes Gebäude mit gewaltigen Mauern und schwindelerregender Höhe. Aber es hat Eleganz.
Diese Mauern zu erobern ist nicht leicht. Vesper gliedert seinen Text nicht in Kapitel und Absätze, er verzichtet auf Ausrufungs- und Fragezeichen, verwischt die Grenzen zwischen direkter und indirekter Rede, meidet Anführungszeichen und folgt keiner festen Chronologie. Von einem Kern ausgehend, dem Frohburg der Jahre 1941 bis 1957, mäandert die Erzählung durch Raum und Zeit. Doch Frohburg, der Marktplatz im Zentrum, das Haus der Großeltern, die elterlichen Wohnungen, bleibt fester Bezugs- und Kristallisationspunkt. Frohburg ist die Nabe in Vespers Weltrad. Der Ort der Geburt und der Jugend bedeutet »Nähe, zeitlich, räumlich, in Gedanken, ein Leben lang.«
Frohburg formuliert im Erinnerungsstrom, in seinem strömenden Erzählen, auch seine eigene Poetologie. Damals in Frohburg hat Vesper gelernt, wie in Frohburg zu erzählen. Das wird im Roman immer wieder angerissen. Endlose Gespräche im Haus der Eltern, lange Abende bei den Großeltern, angefüllt mit Geschichten, Anekdoten und Erinnerungen. Vesper hat als Kind und Jugendlicher noch die letzte Ära der oralen Tradition erlebt, das Schriftliche, das Lesen und Schreiben, spielte eine untergeordnete Rolle, das Mündliche faszinierte den jungen Büchernarren Vesper, diese Lust am Fabulieren bricht sich in Frohburg nun schriftlich Bahn. Mit den Berichten über die eigene Familie, über Freunde und Bekannte, im Reden mit- und übereinander, wurden der Alltag kommentiert, die Welt gedeutet und Geschichte erklärt. Darum geht es in Frohburg: wie die Zeiten tief ins Leben greifen des Einzelnen.
Welterzählung und -deutung hat viele Dimensionen. Deshalb ist es nicht ein Erzähler, der in Frohburg kontinuierlich berichtet. Ohne erkennbare Brüche und Zäsuren, mischt und schichtet Vesper die Stimmen mitunter dreifach, wenn er zum Beispiel als Ich-Erzähler seinen Vater erzählen läßt, wie ihm ein Bekannter etwas erzählt hat, das der wiederum in der Form des Ich-Erzählers vorträgt. Nicht selten führt dabei die Erwähnung eines Namens oder einer Ortschaft zu weiteren eingeschobenen Mikroerzählungen. Manchmal nur einen Satz lang, manchmal dutzende Seiten. Der Überblick aber, das ist phantastisch und Vespers großer Kunstfertigkeit des Ordnens und Anordnens zu verdanken, geht dabei niemals verloren.
Privates Erzählen als Geschichtsschreibung
Bei ihrer illegalen Flucht aus der DDR hat die Familie Vesper 1957 alles Materielle zurücklassen müssen. Nur die Erinnerungen blieben und ihr repetitives Heraufbeschwören. Wie wertvoll ihm die Gespräche mit dem Vater waren, das sich wiederholende neu- und nacherzählen des Vergangenen, betont Vesper mehrfach im Roman. Auch wie schmerzhaft der Moment empfunden wurde, als das Gedächtnis des Vaters im Alter rapide nachließ und damit der Schatz der Erinnerung versank. Diesen Schatz (und weitere mehr) galt es vor dem endgültigen Untergang zu bewahren, und somit steckt im Manuskript von Frohburg auch ein ebenso mutiger wie verzweifelter Akt Vespers, Rettung dem eigenen Vergessen zu stiften.
Das Private, das Schicksal der Familie, seinen eigenen Werdegang nutzt Vesper, um Geschichte zu spiegeln. Er steckt und versteckt das Große im Kleinen. Die historische Dimension lauert hinter prächtig erzählten Episoden, wie der abenteuerlichen Flucht von 5 Tschechen quer durch die DDR, inklusiver wilder Verfolgungsjagd und Schießerei, den grausamen und unaufgeklärten Morden an jungen Mädchen, denen dabei die Augen ausgestochen wurden, den Geschichten streng- und enggläubiger Sektierer im Erzgebirge (»In jedem Haus war ein Bethanien«), dem Schicksal des handauflegenden Heilers, den es bis an den englischen Königshof verschlug oder … Diese Liste könnte beliebig verlängert werden.
Frohburg ist phantastisch und realistisch zugleich, historisch exakt und frei fabulierend. Der Roman entwickelt aus vielen Mikrokosmen ein mögliches Gesamtbild. Nur ein Beispiel: bei einem Besuch in Ahrenshoop erinnert sich der alte Erzähler angesichts eines Ferienhauses an die Urlaube, die er hier als kleines Kind verbracht hat. Das setzt wiederum eine Kette von Nachforschungen und Erinnerungen in Gang, in deren Folge die Geschichte der Vorbesitzer des Hauses und ihr Schicksal in Nazizeit und junger Nachkriegs-DDR ausgebreitet wird.
Der über allen Mikroepisoden wachende und sie lenkende Erzähler strapaziert nicht zuletzt die Vorstellung und die Erfahrung des Lesers. Er macht es ihm, wie gesagt, nicht leicht. Wie bei einem Gespräch am Küchentisch, wenn im illustren Kreis erzählt wird, ist es ratsam, sich nicht nur zurückzulehnen und zu lauschen, sondern im richtigen Moment das eigene Erlebte einzubringen, das was berichtet wird, still zu ergänzen und zu kommentieren. Frohburg fordert sein Leser, zwingt sie, eigene Spannungsbögen zu entwickeln und zu halten. Der multiperspektivische Roman selbst gibt sie nicht vor.
Frohburg ist bei aller Finesse und Süffigkeit kein reines Genussbuch. Die hunderte Episoden schillern und changieren, wechseln die Wertigkeit. Was im ersten Aufscheinen langweilig oder belanglos sein mag, erhält durch später hinzugefügte Informationen plötzlich Spannung. Manches anfangs achtlos zur Seite gelegte Puzzleteil ist plötzlich entscheidend für das Gesamtbild. Genau das macht den Roman so herausragend.
Viel gelesen, wenig geschrieben
Hinter dem Projekt »Frohburg lesen« stand ursprünglich die Idee, meine Lektüre durch kleine Notizen und Kurzbeiträge öffentlich zu machen. Das hat nicht ganz geklappt. Aber es wird (mindestens) noch einen dritten, abschließenden Bericht über meine Frohburg-Projekt geben. Denn auf einige stilistische und sprachliche Feinheiten möchte ich gerne noch eingehen und vielleicht auch der Frage nachgehen, wieviel in Frohburg ist Dichtung und wieviel ist Wahrheit. Denn nicht ohne Grund stellt Vesper seinem Roman das berühmte Motto Fontanes voran: »Für etwaige Zweifler also sei es Roman!«
Roman
Gebunden, 1008 Seiten
Frankfurt/M.: Schöffling & Co, 2016
Link: »Koloss mit Glanzstücken« Guntram Vesper spricht mit Rainer Moritz, Deutschlandradio Kultur.