Vom Ferrante-Fieber, schnabelnden Büchern und einem theatralischen Vorabend – #eintagbeisuhrkamp
Ein Verlag ist ein Unternehmen, das mit seinen Produkten Gewinn erzielen mus, und gleichzeitig eine Kulturinstitution, die mit Büchern den geistigen Diskurs einer Gesellschaft anregen und bereichern möchte. In diesem Spannungsfeld führt ein Verlag ein Leben als Zwitterexistenz. Suhrkamp ist eine Instanz in der deutschen Verlagsgeschichte, und hinlänglich bekannt sein dürfte das Credo des Hauses: »Wir verlegen Autoren, keine Bücher.« Der Sturm der zurückliegenden Jahre mit seinen juristischen Zereissproben um Besitzrechte und Leitungsbefugnisse, angeheizt durch sehr persönliche Fehden, hat sich gelegt. Gut, denn die Konzentration richtet sich wieder zu 100% auf die Kernaufgaben zwischen Kommerz und Kultur; Gute Literatur verlegen und schöne Bücher machen.
Blogger und Marketing
Blogger Relations: ein viel verwendetes und strapaziertes Buzzword der jüngsten Zeit. An sich ist es nicht verwerflich, wenn sich ein Verlag um mögliche Influencer kümmert. Klapperm gehört zum Handwerk. Jedes Unternehmen ist auf diesem Feld aktiv. Warum also sollte ich die Einladung abschlagen, die mich und 14 weitere Literatur- und Buchblogger am 20. Mai ins Verlagshaus gerufen hat. Der Hashtag wurde gleich mitgeliefert: #eintagbeisuhrkamp. Ich erwartete in erster Linie Informationen und Einblicke, die ich kritisch verarbeiten kann, um mir ein Bild zu machen. Die bekam ich auch, und niemand hat mich gezwungen, meinen Verstand oder meine kritische Haltung an der Garderobe abzugeben. Ich fühle mich weder missbraucht als Marketingwerkzeug, noch werde ich künftig jedes Suhrkampbuch hirnlos bejubeln. (Das nur zur Klarstellung!)
Pappellallee 78-79. In einem ehemaligen Finanzamt im Premzlauerberg arbeiten auf drei Etagen rund 120 Menschen am Prinzip Suhrkamp/Insel. Der Bloggertag bot Einblicke in ausgewählte Bereiche. Erster Boxenstopp: die Presseabteilung, die die »klassischen Medien« betreut und bedient, für die Blogger »zuständig« ist die Onlineabteilung. Erkenntnis hier: das leidige Thema »Blogger versus Feuilleton« ist kein Thema, beide Welten nimmt Suhrkamp sehr ernst.
Dann die Begegnung mit Nora Mercurio in der Abteilung Rights & Foreign Rights. Juristenkram, staubtrocken, paragraphenlastig? Im Gegenteil! Hier arbeiten ausschließlich Literaturwissenschaftler. Fremdsprachlich vielfach versiert sorgen sie für die internationale Verbreitung der Suhrkamp-Autorinnen und Autoren. Auf einer eigenen Webseite geben sie, transparent und offen wie bei kaum einem anderen Verlag, umfassend Auskunft über vergebene Auslandslizenzen zeigen Cover fremdsprachiger Ausgaben, stellen Katalog für Buchmessen und Probeübersetzungen ein. Hochinteressant ist es, dort herumzustöbern.
Wie ein brilianter Text perfekt »verpackt« wird, erläuterte anschließend Alexandra Stender, Leiterin der Herstellung. Welches Papier, welcher Einband, welche Bindung? Eine Arbeit in einer Schraubzwinge, deren Backen mit Kosten- und Termindruck, sowie bestmögliche Ausstattung und Optik beschriftet sind. Sie pressen gehörig von zwei Seiten. Frau Stender behauptet übrigens felsenfest, dass Klebebindungen bei Suhrkamp 100 Jahre halten. Wie soll ich das überprüfen? In mein Credo zur bedingungslosen Fadenheftung wollte sie jedenfalls nicht einstimmen, bei »Premiumprodukten« wie der Bibliothek Suhrkamp allerdings, räumt Frau Stender ein, sei die Fadenheftung als hohes Qualitätsmerkmal nicht verhandelbar, na immerhin das! Extrem trendig sind derzeit: farbiger Buchschnitt, Klappenbroschur und aufwändig gestaltete Vorsätze. Eins noch, der größte Horror jeder Herstellerin ist das »Schnabeln«. Hinterm Link steht, was das ist.
Das Prinzip Suhrkamp und das grassierende Ferrante-Fieber
Nach einer kleinen Mittagspause mit Schnittchen und einer Zigarette auf der Dachterasse mit traumhaftem Rundumblick über Berlins Dächer folgte mein persönliches Highlight des Tages. Doris Plöschberger, Leiterin des deutschsprachigen Programms und ihr Kollege Frank Wegner, zuständig für das Programm der fremdsprachigen Autoren und ihrer Übersetzer, standen Rede und Antwort. Beide zeigten sich in höchstem Maße auskunftsfreudig, antworteten auf alle Fragen, auch auf hinterhältige und kritische. Ein anregende Diskussion entwickelte sich, über die Idee, die hinter dem Programm von Suhrkamp steckt (im allgemeinen und speziell im Herbstprogramm 2016), über Autorenpflege, die Leidenschaft und den Zeitdruck beim Lektorat, Zerwürfnisse und glückliche Fügungen. (Und mit Frau Plöschberger durfte ich mich obendrein ausgiebig über Arno Schmidt und die für den Oktober angekündigte große Bildbiographie austauschen. Bei aller Opulenz, da waren wir uns einig, kein wirklicher Ersatz für eine weiter schmerzlich vermisste »echte« Biographie.)
Ápropos Herbst 2016. Alle Mitarbeiter bei Suhrkamp sind angeblich heiß gemacht worden auf Elena Ferrante, alle mussten sie lesen und diskutieren. Elena Ferrante liefert mit Meine geniale Freundin den Spitzentitel im internationalen Herbstprogramm, sechs Seiten sind ihr in der Vorschau gewidmet, normal sind zwei. Das Buch ist der erste Teil einer Tetralogie, die weltweit bereits für höchstes Aufsehen und Aufregung gesorgt hat und nun auch in deutscher Sprache (übersetzt von Karin Krieger) erscheint. Nach einem, wie Wegner betonte, dramatischen und heißen Wettrennen um die Rechte.
Ferrante ist die große Unbekannte der Gegenwartsliteratur. In Neapel geboren entschloss sie sich nach ihrem Debütroman 1999 zur Anonymität. Ihre neapolianische Saga um zwei Freundinnen, die einen Bogen von den 50er Jahren bis heute spannt, startete sie 2011. Seitdem sind die vier Bände ein internationaler Megaseller, alle rätseln, wer dahinter steckt und alle sind begeistert über die ebenso kraftvolle wie anrührende Geschichte, die Ferrante ausbreitet. Einfach mal nach »Elena Ferrante« googlen oder (als ganz willkürliche Auswahl aus der Flut der Publikationen) die Artikel in der Welt und der NZZ lesen. So gerne ich um Hype und hochgepeitschte Publicity einen Bogen schlage, hier bin auch ich mal richtig gespannt auf das, was kommt. Eine Leseprobe aus dem Roman (PDF) findet ihr auf der Verlagsseite.
Meine geniale Freundin erscheint am 6. September, ich darf Ferrante schon jetzt lesen, aber noch nichts verraten. Nur soviel: trotz der Anmutung des Covers, es ist kein »Frauenbuch«. Dass verlagsintern alle Mitarbeiter, wirklich alle, so massiv auf einen Titel eingeschworen werden, ist selbst bei Suhrkamp eine Novum und sehr ungewöhnlich. Ich bin gespannt, wie sich das entwickelt, ob sich der große Einsatz lohnt, ob das Elena-Ferrante-Fieber auch die deutschen Leserinnen und Leser infiziert?
Edit 23.5.16: Die englischsprachige Ausgabe gelesen und darüber geschrieben haben buchpost und Der Luxusanarchist.
Edit 16.6.16: Stefan Mesch hat sich ebenfalls intensiv mit dem Phänomen Ferrante, sowie ihrer »Neapolitanischen Saga« auseinandergesetzt und seine Eindrücke, Meinungen, Gedanken in einen langen, sehr lesenswerten Artikel zusammengefasst.
Hat jemand die Bücher bereits gelesen, italienisch, französisch oder englisch? Habt Ihr eine Meinung zum Phänomen? Stößt es eher ab oder zieht es an? Ich freue mich auf Kommentare.
Mittelreich als Theaterstück und Roman
Was wenig beachtet wird, Suhrkamp hat auch einen Theaterverlag und vertritt die Aufführungsrechte vieler Autoren, allein unter »B« finden sich große Namen wie Brecht, Bernhard und Beckett. Aber mit großem Engagement werden auch junge Nachwuchsdramatiker gepflegt und aufgebaut. Auch im Theaterverlag gilt das sattsam bekannte Credo. Der Zufall (oder war es Planung) wollte, dass zum Berliner Theatertreffen 2016 die Kammerspiele München mit Anna-Sophie Mahlers Dramatisierung von Sepp Bierbichlers Roman Mittelreich geladen war. Der Besuch der Aufführung stand am Vorabend des Bloggertages auf dem Programm. Christiane Schneider, Leiterin des Theaterverlages, wußte im kurzen Einführungsgespräch auf der Probebühne des Deutschen Theaters zu berichten, dass sich in jüngster Zeit die Adaption erzählender Texte für die Bühne als Trend verfestigt.
MITTELREICH – Münchner Kammerspiele from Münchner Kammerspiele on Vimeo.
Im Mittelpunkt steht die Seewirtschaft im bayerischen Seedorf und das Leben ihrer Wirtsfamilie. Es ist der Fluch des Erbes, die Unausweichlichkeit des Schicksals, die Fügung der Zeitläufte, die das Leben der jeweiligen Seewirte, ihrer Kinder und das der Knechte und Angstellten bestimmt. Vom ausgehenden Kaiserreich bis in die Gegenwart. Anna-Sophie Mahler hat aus Bierbichlers Roman eine szenische Collage entwickelt, die zentrale Stränge herausarbeitet und in einer musiktheatralischen Umsetzung bündelt. Brahms Deutsches Requiem, gesungen von einem Chor und den Schauspielern, spärlich begleitet von zwei Klavieren und Schlagwerk, bildet die zentrale Achse. Im ersten Teil noch sehr narrativ, mehr zeigend als spielend, entwickelte sich das Stück im zweiten Teil zu großem Schauspielertheater, eindringlich und berührend ist diese Erinnerungs-Montage vor allem dank eines famosen Ensembles.
Der Roman von Josef Bierbichler (er arbeitet gerade an Drehbuch und Regiekonzept der Verfilmung) sei hier nochmals mit Nachdruck empfohlen. Es ist eine wuchtige und pralle Familiengeschichte, die das große Pathos nicht scheut, aber immer im richtigen Moment wieder die Bodenhaftung in glaubhafter Alltagsschilderung zurückgewinnt. Bierbichler hat ein ganz eigenes Idiom gefunden, eine Sprache, die durch Satzbau und Wortwahl sehr bayerisch klingt, ohne in Dialekt zu fallen. Bierbichler erzählt dampfig und biergeschwängert, voller Saft und Kraft, ohne auch nur ansatzweise in kommödienstadelige Folklore abzudriften. Mehr Informationen zum Buch und eine Leseprobe auf der Verlagsseite. Ein wirklich lesenswerter Roman. (Mittelreich bestellen bei buchhandel.de)
P.S.: Das Finale von #eintagbeisuhrkamp gestaltete Emma Braslavsky mit einer Lesung aus ihrem Roman Leben ist keine Art mit einem Tier umzugehen.
Eine ebenso ernste, wie sarkastisch-ironische Abrechnung mit der Sucht der Gesellschaft nach Weltverbesserung, die theoretisch immer gelingt, sich praktisch aber nie umsetzen läßt. Acht Jahre lang hat Braslavsky für diesen aktuellen Gesellschaftsroman recherchiert, sorgfältig an den fünf verzwirbelten Erzählsträngen gearbeitet und ihre Figuren, wie sie sagt, durch viele Entwicklungsstufen gejagt, bevor sie wurden, was sie jetzt sind. Auch dieser Roman erscheint im September. Vormerken, bitte.
P.P.S: Zum Abschluss eine bescheidene Diashow mit weiteren Eindrücken vom Bloggertag im Hause Suhrkamp.
P.P.P.S: Weitere Berichte zu #eintagbeisuhrkamp und zum Bloggertreffen gibt es von Mara auf Buzzaldrins Bücher & von Ilja auf Muromez & von Simone auf Klappentexterin & von Vera auf Glasperlenspiel 13 & Uwe auf Kaffeehaussitzer & Ilke auf ihrem Youtube-Kanal BuchGeschichten.