Die Eroberung der Welt mit gewetzten Messern – Die Verschwörung der Tauben
Bei Geld hört die Freundschaft auf, sagt der Volksmund, und der behält, das wissen wir, nicht selten recht. Vincenzo Latronico wählt als Generalbass für seinen Roman Die Verschwörung der Tauben eine verschärfte Version der Redensart: Beim ganz großen Geld wird aus Freundschaft Verrat. Die entfesselten, globalen Finanzmärkte funktionieren nur, weil Menschen sie antreiben. Was aber treibt die Menschen an, sich im Streben nach Reichtum, Einfluss und Macht derart zu verbiegen, dass Freundschaft, Moral und Menschlichkeit auf der Strecke bleiben? Mögliche Antworten spielt Latronico in seinem Psychogramm der modernen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung verblüffend schlüssig und spannend durch.
Von Zeit zu Zeit wird jemand geboren, der eines schönen Tages den Entschluss fasst, die Welt zu erobern, und kurz darauf zieht er los auf der Suche nach einem Ort, wo er die Messer wetzen kann.
Die Verschwörung der Tauben spielt in einem aus primär wirtschaftlichen Gründen vereinten Europa, einem sowohl politisch korrupten, als auch finanziell ruiniertem Italien und in der von urbanen Transformationen erschütterten und gentrifizierten Stadt Mailand. Der Roman erzählt von der Freundschaft von Alfredo und Donka. Die beiden ambitionierten, jungen Männer lernen sich an der Mailänder Wirtschaftsuniversität kennen. Alfredo kommt aus reichem Haus und will dem dominaten Vater seine unternehmerischen Qualitäten beweisen. Donka ist ein mittelloser aber ehrgeiziger Albaner, der sich als Immigrant zunächst nicht auf sichere Seilschaften verlassen kann und der seine Ausbildung an der Eliteuni lediglich einem Stipendium verdankt. Ihre Lebenswege trennen, kreuzen und überschneiden sich im Verlauf der Handlung. Beide sind brilliant, ambitioniert und auf ihre Art gierig. Alfredo reüssiert mit windigen Immobiliengeschäften und je höher die Bilanzsummen und Gewinne klettern, desto mehr verstrickt er sich in riskanten Finanzgeschäften und Kapitaltransaktionen. Donka schlägt eine Laufbahn an der Universität ein, protegiert von seinem einflussreichen, im Netz der Mailänder Politik und Wirtschaft eifrig strippenziehenden Professor. Der Verlauf ihrer Lebens- und Karrierewege wird zu einer Parabel über die Verwerfungen und Wunden, die eine zügellose Wirtschaftsordnung in der Gesellschaft und den Biographien ihrer Mitglieder hinterläßt.
Zwischen Alfredo und Donka steht die Kroatin Drina. Sie arbeitet als »motivational consultant« und bringt Führungskräfte mit ihrer psychotherapeutischen Dienste wieder in die Spur. Ihre Aufgabe ist es, im Auftrag multinationaler Konzerne, emotionale Defizite und Krisen der Manager nicht zu heilen, sondern lediglich die Symptome niederzuringen und Schmerzen zu dämpfen. Die drei Hauptfiguren agieren in einem komplizierten Beziehungsgeflecht, das die Ethik der zwischenmenschlichen Beziehungen angesichts globaler Krisen auslotet.
Die Wirtschaft gehorcht nur den Regeln, die sie selbst aufstellt. Das Spiel der freien Marktkräfte ist auf Gewinnmaximierung anlegt, sein Treibmittel ist der Egoismus. Moral und Menschlichkeit sind keine buchbaren Werte. Aus diesem gnadenlosen Wettbewerb geht nur der als Sieger hervor, der weniger Skrupel hat als andere. Und letzte Skrupel wirft nur der erfolgreich über Bord, der in früheren Kämpfen bereits verletzt und gedemütigt wurde. Donka hat in seiner Heimat Albanien alles verloren, als dort in den 90-er Jahren Finanzjongleure mit einem aberwitzigen Pyramidensystem den Staat, Banken, und Privatleute in den Bankrott gerissen haben. Das lastet auf ihm wie ein Kainsmal, zeichnet sein Schicksal vor. Alfredo wiederum will ausschließlich und mit aller Macht den Vater besiegen, und Drina ist der von ihr betriebenen Verdrehung von Krankheit und Heilung, Ursache und Wirkung überdrüssig.
Alle drei stoßen schließlich auf das Kernproblem im Herzen unserer Gesellschaft. Irgendwann existieren nur noch Gründe, Ausflüchte und Entschuldigungen, mit denen wir diejenigen verraten, die uns vertrauen. Eine bittere Wahrheit.
Wann wird aus einer Taube ein Falke? Mutieren Tauben, die sich verschwören, automatisch zu Falken, oder sind sie in der Lage, eine friedfertige Ordnung zu etablieren. Besteht auf der anderen Seite die Chance, dass sich Falken durch evolutionären Druck aus der entsprechenden Richtung zu Tauben zurückentwickeln? Diese der evolutionären Spieltheorie entlehnten Fragen ziehen sich als roter Faden durch den gesamten Roman. Die Trennlinien zwischen Tauben und Falken verwischen in dem System, das von wenigen Mächtigen kontrolliert wird und das den freien Menschen, den Bürger, zur teilnahmslosen Figur auf einem Schachbrett degradiert.
Vincenzo Latronico Hauptfiguren verfügen in einer vermeintlich reichen und freien Welt nur über wenig Spielräume. Investition und Rendite bestimmen ihr Leben, ihre Emotionen sind beschnitten und ihr Vokabular ist reduziert. Die Verschwörung der Tauben zeichnet ein düsteres, aber realistisches Bild unserer Zeit. Latronico hat einen Roman über die moderne Wirtschaft und ihre fatalen Mechanismen geschrieben, der nicht verteufelt oder plakativ anklagt, sondern sehr fein nachzeichnet, wie atavistische Kräfte das Leben der Figuren langsam zersetzen und auf Verfügbarkeit und Verführbarkeit reduzieren. Liebe, Glück, Zufriedenheit kommen den Akteuren zunehmend abhanden. Die Gier, als treibendes Momentum in einer global-kapitalisierten Gesellschaft, fordert beständig Opfer und der Verrat ist schließlich die letzte Waffe, sich dagegen verzweifelt zur Wehr zu setzen. Doch selbst der kurzzeitige Triumph, so Latronicos Quintessenz, ist nicht in der Lage, den immer brüchiger und rissiger werdenden Firniß der Zivilistion und Empathie zu rettem.
Am Ende stürzt der Falke Alfredo ab, die Taube Donka mutiert zum Raubvogel und Drina verrät die Geheimnisse ihrer Kunden.
Aus dem Italienischen von Klaudia Ruschkowski
Gebunden mit Vorsatzklappen, 336 Seiten
Zürich: Secession Verlag 2016
Ein raffiniert konstruierter, in seiner analytisch-zurückhaltenden, aber präzise beschreibenden Sprache höchst beeindruckender Roman. Der Erzählton hält ein feines Gleichgewicht zwischen Humor und ernstem Kommentar, wird dabei niemals leichtfertig oder oberflächlich. Eine ebenso verstörende wie erhellende Lektüre. Großes Lob für substantielle Kraft und eindringliche Stärke: Die Verschwörung der Tauben von Vincenzo Latronico.