Ackerfurchen in rotem Lehm – »Szenen aus Schottland« von James Leslie Mitchell
Der Geruch von roter Lehmerde steigt in die Nase, feuchtkühle Luft streicht über die Haut, in der Ferne steht die majestätische Hügelkette der Grampians am Horizont, wenn der Nebel ausnahmsweise zerreißt und der Himmel aufklart.
Die Szenen aus Schottland von James Leslie Mitchell sind frei von Dudelsack- und Tartankaroklischee. Sie zeigen Menschen, die versuchen in einer harten, kargen Landschaft zu überleben. So schwer die Entbehrungen auch sind, Mitchell schildert sie mit einer grenzenlosen Liebe zu Land und Leuten. Und diese Liebe verpackt er in wunderbare Worte.
James Leslie Mitchell, geboren 1901, entstammt einer Landarbeiterfamilie aus der Nähe Aberdeens. Als Verwaltungsmann beim Militär arbeitet er in Indien, im Nahen Osten und Ägypten. Ausgeschieden aus dem Militärdienst, ließ er sich1928 in England nieder, wurde Schriftsteller und starb im Alter von nur 34 Jahren. Seine Heimat ließ ihn niemals los, Mitchell blieb im Herzen stets »schottisch«.
In den vorliegenden Erzählungen spiegelt sich die Mentalität der Menschen in der schönen, aber wenig fruchtbaren Landschaft. Das Leben der Bewohner der kleinen Höfe und Kotten ist unerbittlich. Sie plagen sich täglich ab auf den Feldern und der Ertrag ist gering. Sehr sensibel und ohne Sentimentalität oder Rührseeligkeit nähert sich Mitchell diesen Menschen. Die harte Arbeit hat sie abgestumpft und ihre Seelen vernarbt. Ein Bauer schuftet sich da buchstäblich zu Tode. Ein anderer vergisst über sein verzweifeltes Bemühen, ein Stück Ödland fruchtbar zu machen, seine Frau. Er bemerkt nicht, wie sie erkrankt und stirbt, selbst noch an ihrem Grab grübelt er über bessere Methoden des Düngens.
So sehr die Bauern das Land verfluchen, dem sie eine Ernte abringen müssen, so sehr lieben sie es. In kurzen Augenblicken der Ruhe heben die Feldarbeiter ihren Blick und es blitzen, versteckt in Nebensätzen und kurzen Einwürfen, wundervolle Liebeserklärungen an die Weite der Hügel auf, an den Blick über Seen, Wälder und Flüsse. Mitchell malt keine Idylle, sondern entwirft hyperrealistische Bilder. Schönheit und Entbehrung gehen eine symbiotische Beziehung ein. Der Mensch formt die Landschaft, die Landschaft den Menschen. So knapp und kurz gehalten die Geschichten auch sind, die Figuren schrumpfen niemals zu Typen. James Leslie Mitchell entwirft selbst für die letzte Nebenfigur individuelle Charakterstudien.
Mitchells poetisch-realistischer Blick auf Schottland läßt sich besonders eindringlich in dem Zyklus »Das Land« studieren. Im Gang durch die Jahreszeiten streift der Blick über ein kleines Stück Natur. Es wechseln nicht nur Klima, Wetter und Licht, es leben nicht nur Fauna und Flora auf und sterben wieder ab, sondern auch die Gefühle und Gedanken des Betrachters. Im Kreis der Jahreszeiten entdeckt Mitchell auch evolvierende Stationen des Lebens und das Voranschreiten der Zeiten.
Mitchell ist nicht daran interessiert, Vergangenes oder Gegenwärtiges zu konservieren, sondern er glaubt sehr wohl an Fortschritt und Entwicklung. Das belegen die zwei Städteporträts von Glasgow und Aberdeen. Diese beiden Texte sind härter und journalistischer im Klang und in ihrer Argumentation. Mitchell prangert die unwürdigen Lebensumstände der Armen in den Slums der Großstädte an, verurteilt die Industrialisierung und ihre entfremdenden Arbeitsprozesse. Schlechtes Essen, schnell gekocht und schnell verschlungen; kurze Leben, schnell verbraucht und jäh beendet. Gleichzeitig sät er Hoffnung zwischen diese unerbittlichen Zeilen. In der modernen Großstadt vermutet Mitchell auch utopische Potentiale, in den Städten, so sie denn reformiert würden, könnten sich Räume auftun für eine bessere Zukunft der Landbevölkerung.
James Leslie Mitchell war überzeugter Sozialist und Antinationalist. Diese Überzeugung hat er nicht nur in die reportageartigen Städteporträts hineingetragen. Sie schimmert auch in den sehr poetisch gefärbten Erzählungen von den Menschen in der Landschaft. Mitchell verklärt nicht, er bleibt bei aller Poesie immer realistisch und den Menschen und ihren Lebensbedingungen eng verbunden. Kitsch und Folklore sind im fremd.
Mitchells Sprache ist kraftvoll, vokabelreich, und liefert überraschende Bilder. Doch sie bleibt bei aller lyrischen Konzentration immer klar, direkt und eindringlich. Esther Kinsky, selbst eine ausgezeichnete Schriftstellerin, hat Mitchells Texte ganz wunderbar übersetzt. Sie muss viele alte Wörterbücher gewälzt haben, um diese schönen Begriffe zu finden, bei denen der Leser unwillkürlich ausruft: Oh, was für ein treffendes Wort, das habe ich lange nicht mehr gehört. Gerade damit wird Kinsky Mitchells poetischem Realismus sehr gerecht.
Für die ausserordentliche Qualität von Mitchells Erzählungen in Szenen aus Schottland spricht auch, dass man jeden Text ad hoc nochmal lesen möchte und dann ein drittes oder viertes Mal; sicherlich mit das größte Lob, dass man Literatur aussprechen kann. Mit dieser Sammlung beschert der Guggolz Verlag einmal mehr die Wiederentdeckung eines zu unrecht vergessenen Autors. Lest Szenen aus Schottland von James Leslie Mitchell!
Erzählungen
Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Esther Kinsky
Gebunden, fadengeheftet, 170 Seiten
Berlin: Guggolz Verlag 2016
Bildnachweis: Porträt James Leslie Mitchell: Fotograf unbekannt, gemeinfrei | Quelle: Wikimedia Commons