Als der Buchpreis am Ortler zerschellte – Eine Entschuldigung und zwei Kurzkritiken
Wenn es in den Urlaub geht, kommen Bücher in den Koffer; freilich jedesmal zuviele. Steigerung: Wenn der Buchpreisblogger eine Reise antritt, nimmt er einen Stapel Longlisttitel mit; und packt sicherheitshalber noch einen mehr obendrauf, weil es sein muss. Aber ach, jedesmal zerschellt der Anspruch an der Wirklichkeit.

Südtirol, Vinschgau, strahlendes Herbstwetter, als Quartier ein einsam-idyllischer Bio-Bergbauernhof, von mächtigen 3.000ern umstellt. Jeden Morgen startet ein neuer Gipfelangriff, werden Wanderführer und topographische Karte eifrig konsultiert. Die Bücher liegen auf dem Nachttisch nebenan, tagsüber einsam und verwaist, abends nur noch müde kurz zur Hand genommen. Bei der Gletschertour am Ortler ist für sie kein Raum im Rucksack; bis zur Weißkugelhütte will sie niemand schleppen, schon gar nicht bei unglaublichen 27 Grad Celsius, erst recht nicht weiter auf dem Richterweg zum Blick vom Joch auf den Gepatschgletscher.

Kurz: viel Urlaub, wenig Longlist! Überhaupt verlief der Buchpreis bei lustauflesen.de unglücklich. Vor dem Urlaub kollidierte die Bekanntgabe der Longlist mit einer Pressetour durch Flandern & die Niederlande. (Der Einladung des Ehrengastes der Frankfurter Buchmesse 2016 musste ich folgen.) Und buchstäblich nach der letzten südtiroler Wandertour purzelte die Shortlist die Bergflanke hinab vor die Füße des saumselig herumwandernden Buchpreisbloggers. Wie gesagt, sie fiel unglücklich, nun hinke ich mächtig hinterher.
Was augenblicklich beizutragen ist, sind zwei Kurzkritiken zu Anna Weidenholzer und Bodo Kirchhoff, quasi als Protokoll einer verschleppten Lektüre. (Ein Betrag zu Thomas Melle wird in Kürze folgen.)
Anna Weidenholzer: Weshalb die Herren Seesterne tragen (Matthes & Seitz, Berlin)
Herr Hellmann sucht das Glück. Mit dem Fragebogen zur Ermittlung des »Bruttoszialglücks« in Buthan im Aktenkoffer strandet er im Gasthof »Zur Post«; irgendwo in den Bergen, wo alle auf den ersten Schnee warten und damit auf den Beginn der Wintersaison. Karl Hellmann beginnt zu fragen, bekommt aber wenige Antworten, im Gegenteil, er wird befragt, er muss sich erklären, sein Glück steht auf dem Prüfstand.
Anna Weidenholzer erzählt von einem Menschen, der in die Welt zieht, um erst zu sich selbst und dann wieder nach Hause zu finden. Er kehrt dorthin zurück, wo die Ehefrau Margit wartet und mit ihr die Aufgabe, die eigenen Konflikte zu lösen, das eigene Glück zu finden. Weshalb die Herren Seesterne tragen ist eine stille, beizeiten wie auf der Stelle tretende Erzählung, ohne große Spannungsbögen und Dramatik. Doch der Text horcht dabei sehr tief hinein in seine Figuren. Das macht ihn stark und überzeugend, ebenso die feine, kaum voneinander abgesetzte Verzahnung von Dialog, innerem Monolog und äußerer Handlung. So wird nie ganz eindeutig, was konkrete Erinnerung Hellmanns ist, was Einbildung oder Gedanke, was gegenwärtiges Geschehen, was Vergangenheit. Die einzelnen Kapitelüberschriften nennen präzise, abnehmende Kilometerangaben, Hellmann ist bereits auf dem Rückweg, der erzählende Text eine doppelte Bewegung, zentripedal nach aussen und zentrifugal nach innen.
Das Glück läßt sich nicht erforschen und messen oder objektiv quantifizieren. Karl Hellmann erkennt sich letztlich im Spiegel(bild) seiner Versuchspersonen und geht zurück auf Anfang. Ob seine Rückkehr rechtzeitig erfolgt, bleibt offen. Doch was geschieht schon rechtzeitig im Leben?

Roman
Gebunden, 192 Seiten
Berlin: Verlag Matthes & Seitz 2016
Informationen zum Buch auf der Webseite des Verlages
Buchpreisbloggerin Sophie Weigand auf literaturen zu Anna Weidenholzer
Bodo Kirchhoff: Widerfahrnis (Frankfurter Verlagsanstalt)
Bodo Kirchhoff präsentiert eine Art Roadmovie als Novelle. (Achtung! Eine Novelle folgt anderen Gattungsgesetzen als ein Roman.) Langsam und stetig ist der Text in seinen Bewegungen. Was als Ausflug zum Sonneaufgang an den Achensee beginnt, wird zur Fahrt durch Italien bis hinab nach Sizilien. Die, die dort fahren, sind vom Leben enttäuscht und verletzt, haben abgeschlossen: Reither mit seinem kleinen Verlag, weil es mittlerweile mehr Menschen gibt, die schreiben als lesen und Leonie Palm mit ihrem Hutgeschäft, weil es keine Menschen mehr mit Hutgesicht gibt.
Doch auf ihrer ziellosen Fahrt, einer Fahrt um der Bewegung willen, mit all ihren Ritualen und Reminiszenzen auf Vergangenes, Vergessenes und Verdrängtes finden sie zueinander; schüchtern und ein wenig unbeholfen wie Teenager gegenüber den aufkeimenden Gefühlen.
Kirchhoff gelingt hier großes im kleinen. Er erzählt in präzisem und elegantem Rhythmus vom Wiederfinden der Liebe und dem Leben. Seine Prosa fließt gleichförmig über Sätze, Absätze, Seiten und Kapitel wie das Cabrio mit Palm und Reither über die Autostrada, schildert mit unbestechlichem Blick die Schönheiten in der Landschaft und die im Gefühlsleben der Figuren, spart aber gleichzeitig Ödland am Rande der Autobahn ebensowenig aus, wie die dunklen, abgewetzten Flecken der Seele.
Es ist ein kleines Büchlein, das Reither und Palm zusammenbringt. Sie hat es unter Pseudonym geschrieben, um das Traum der Selbsttötung ihrer Tochter zu verarbeiten. Auch Reither könnte Vater sein, hätten er und seine Lebensgefährtin sich damals nicht gegen das Kind entschieden. In Palermo schließt sich Palm und Reither ein Mädchen an, das nicht redet, einfach nur da ist, fordernd und abwartend zugleich. Diese stumme Mignon-Figur wirkt wie ein Katalysator in dieser Geschichte einer unsentimentalen Italienreise mit unzähligen sentimentalen Vorbildern. Die Tochter ist wieder da und das ungeborene Kind. Das wäre bei anderen pathetisch-plakativ, doch Kirchhoff präsentiert diese Konstruktion meisterhaft glaubwürdig bis ins Detail. Palm und Reither erkennen, wie schwer es ist zu lieben, ohne lieben zu können, und wie mühselig es ist, Mitgefühl zu zeigen, ohne wirklich mitfühlen zu können.
Man kann das altmodisch nennen oder aus der Zeit gefallen, wie Tobias Nazemi auf buchrevier, aber es ist doch große Prosakunst, die Kirchhoff hier beweist. Sie berührt jede und jeden, die oder der sich noch durch literarische Texte berühren lassen möchte. Widerfahrnis schenkt dem Leser sehr viel, wenn man sich auf die Novelle einläßt.
Bodo Kirchhoff hat zurecht einen Platz auf der Shortlist erhalten, Anna Weidenholzer hätte ich ebenso gerne einen gewünscht, mehr jedenfalls als einigen anderen Titeln, die sich nun dort finden. Aber das ist eine andere Geschichte.

Novelle
Gebunden, 224 Seiten
Frankfurt/M.: Frankfurter Verlagsanstalt 2016
Informationen zum Buch auf der Webseite des Verlages
Andere Buchpreisblogger zu Bodo Kirchhoff: Jacqueline Masuck auf masuko13 und Gérard Otremba auf Sounds & Books

27. September 2016 @ 13:28
Ja, ich habe mich auch schon ein wenig gewundert, daß hier sowenig zu lesen war und öfter begierlich nachgeschaut, um rezensionen zu entdecken.
Das mit dem Berg kenne ich, denn wir wandern auch regelmäßig in der letzten Augustwoche dort herum, im Vorjahr mit Gertrud Klemm im Toten Gebirge https://literaturgefluester.wordpress.com/2015/08/23/mit-gertraud-klemm-ins-tote-gebirge/, heuer habe ich im Toten Gebirge Michelle Steinbecks Sprachexperiment gelesenhttps://literaturgefluester.wordpress.com/2016/08/28/mit-dem-e-bookreader-ins-hoellengebirge/, was keine sehr gute Wahl war, das mit Nullinformationen auf einer Hütte zu tun, “Am Rand” https://literaturgefluester.wordpress.com/2016/08/31/am-rand/ hätte zwar an sich besser, aber da hat das Leseformat nicht ganz gepasst.
Ja, das Buchpreislesen ist anstrengend, macht mir aber immer noch Spaß und heuer habe ich da ja von der deutschen Liste fast alles, dafür von der österreichischen Liste fast nichts zugeschickt bekommen, so daß ich immer noch einen Haufen Bücher auf dem Klo liegen habe und die lesen soll und auch werde, bin gerade bei Buch zwölf der deutschen Liste und das finde ich schön, obwohl ich ich für meine Shortlist erst zweieinhalb Vorschläge habe, und die Sibylle Lewitscharoff https://literaturgefluester.wordpress.com/2016/09/23/das-pfingstwunder/, die bisher meine Preiskanditatin wäre, steht gar nicht auf der echten, liebe Grüße aus Wien und weiter schönes Lesen!
26. September 2016 @ 17:43
Wenn der Berg ruft, kann der Buchpreis einpacken 🙂
Langsam bekomme ich doch Lust auf diese Kirchhoff-NOVELLE, obwohl ich ihn lange nicht mehr lesen mochte. Aber das Buch wird so gut besprochen, vielleicht nähere ich mich dann doch einmal wieder an Bodo an…
26. September 2016 @ 19:24
Mir hat es wirklich sehr gut gefallen. Vor allem, weil es sehr intelligent konstruiert ist und sich in seinen Themen immer weiter auffächert. Bodo Kirchhoff ist sonst auch nciht zwingend einer meiner Lieblingsautoren gewesen. Aber “Widerfahrnis” ist ihm gelungen. lg_jochen
26. September 2016 @ 10:17
Hallo, irgendwann braucht auch der fleißigste Buchleser eine “Vakanz”. Danach, mit neuer Kraft, geht es wieder mit Freude auf ein “Neues”. Eine gute Zeit wünscht Hans Brink
26. September 2016 @ 09:56
Es ist mit Büchern doch ein wenig wie mit Bergen. Jene werden gelesen, diese bestiegen, weil sie da sind. Einen anderen Grund braucht’s im Grunde nicht. Literatur- bzw. Wanderführer dienen einer Orientierung, allein welche Tour es dann wird und ob man in der vorgegebenen Zeit ankommt, wen kümmert’s. Aussicht und Eindruck an der jeweils passierten Stelle machen den Wert aus. Natürlich von Vorteil ist’s, mit anständigem Rüstzeug sich auf Wanderschaft zu begeben, aber nicht unbedingt notwendig. Allein. so denk ich, ist vor Einbruch der Dunkelheit unterzukommen. Und Pausen zu machen hier wie da tut auf jeden Fall seine positive Wirkung.
In dem Sinne, alles gut und Aussicht genießen!
Herr Hund.