Polderpoesie – Junge Lyrik aus Flandern und den Niederlanden
In Rotterdam holt die Müllabfuhr den Abfall und bringt Lyrik. Denn auf den Fahrzeugen der Rotterdamer Müllwerker stehen Gedichte. In den Niederlanden und in Flandern ist Lyrik kein Genre für Schöngeister und Spezialisten. Autorinnen und Autoren haben mit ihren poetischen Werken einen Weg in die Öffentlichkeit gesucht und gefunden. Auf vielen Pfaden gelangt Lyrik bei unseren Nachbarn an die Frau und den Mann. Die Anthologie Polderpoesie, herausgegeben von Stefan Wieczorek und Christoph Wenzel, bietet einen Einblick in eine überraschend breite und vielfältige Lyrikszene. Polder, das sind dem Meer abgerungene neue Landstücke, typische Landschaften in Flandern und den Niederlanden. Auch die Polderpoesie schafft Neuland, indem sie Dichterinnen und Dichter zweisprachig auf Niederländisch und Deutsch vorstellt.
Poesie ist ein orales und digitales Medium geworden. Kultur wird reoralisiert. Youtube ist zu einer literarischen Institution geworden. Das schafft ungeahnte Möglichkeiten. Die Poesie verbindet sich mit dem Internet, den sozialen Medien und den virtuellen Techniken.
So fasst der belgische Literaturwissenschaftler und Dichter Geert Buelens die Situation der Poesie bei unseren Nachbarn in Flandern und den Niederlanden zu Beginn des 21. Jahrhunderts zusammen. Tatsächlich finden sich bereits bei schneller Suche zahlreiche Youtube-Kanäle wie vpro poëzie auf denen Dichtung weit entfernt von der Wasserglaslesung präsentiert wird. Dichter wie Tsead Bruinja fühlen sich dort pudelwohl.
Auch vom holländischen Fernsehen werden Lyrikclips produziert und ausgestrahlt. In vielen Städten Flanderns und Hollands werden öffentlich bestallte Stadtdichterschaften ausgeschrieben, und anders als manche deutsche Stadtschreiber, deren Posten eher Stipendien für frei fliegendes Werkeln gleichen, müssen die Lyriker dort regelmäßig liefern; sie sind aufgerufen, die städtische, lokale Identität mit Poesie zu verknüpfen, für die Stadt und in die Stadt hinein. Gleichzeitig werden Gedichte auch im öffentlichen Raum und in der Architektur viel sichtbarer als etwa in Deutschland.
Wer hinter der großen Breitenwirkung der Lyrik und ihrer performativen Präsentation auf zahlreichen Festivals, in Tageszeitungen und selbst auf Stadtfesten einen Verlust sprachlicher Kraft und geistiger Tiefe vermutet, irrt. Bei aller Urbanität und Nähe zum Alltag haben die Dichterinnen und Dichter ihre Spektren keineswegs verengt zugunsten größtmöglicher Breitenwirkung. Die Stimmen und Stile sind vielfältig, aktuelle politische und soziale Themen finden ebenso Raum wie Rückgriffe auf lyrische Traditionen oder der Spaß an virtuoser Sprachartistik. Graphische Umsetzungen von Gedichten in Comics und Illustration, digital animierte Poesie, wie sie die Dichterin und Komponistin Rozalie Hirs liefert, oder Virtual-Reality-Projekte, alles ist möglich, allem öffnen sich junge Lyrikerinnen und Lyriker.
wenn die blätter in den bäumen
zu etwas wie herbst verknöchern ist er der mann
an der bar in einer hand ein glas
in der anderen die zigarette
ohne hoffnung gerettet zu werden
er sagt liebe ist glückseligkeit
mit der wir das heute vervollkommnen
ein haus ohne hausrat
schatten und fledermäuse
stürzen sich ununterbrochen
auf dich nur deine füße
sind noch schnell genug um in schiefen
und gefährlichen kurven
von dir weg zu fliegenEls Mors (übersetzt von Stefan Wieczorek)
In Polderpoesie werden 21 Autorinnen und Autoren vorgestellt und es erklingt ein vielstimmiger Chor. Ein Kriterium der Herausgeber war, dass die Ausgewählten, nahezu exakt die Hälfte von ihnen Frauen, nicht älter sind als 40, damit das Attribut »junge Lyrik« noch greift. Die Anthologie ist tatsächlich ein zuverlässiges und lesenswertes Kompendium dessen, was Flandern und die Niederlande in Sachen Poesie augenblicklich zu liefern in der Lage sind. Erwähnenswert ist ebenfalls, wie präsent etwa mit dem niederländisch-palästinensichen Dichter Ramsey Nasr, dem marrokanisch-niederländischen Schriftsteller Mustafa Stitou oder dem aus dem Irak stammenden Rodaan Al Galidi die Stimmen der Migranten sind.
Nicht vergessen: zwei Länder eine Sprache. Der Dichter und Lyrikkritiker Rob Schouten hat die Poesie aus Flandern und den Niederlanden als eine »Einheit mit zwei Gesichtern« bezeichnet. Ob die flämische Dichtung tatsächlich ein anderes Gesicht, ein von der spezifischen historisch-politischen Situation und der Sprach- und Kulturgrenze in Belgien gezeichnetes Antlitz zeigt als die niederländische, bleibt offen. Vielleicht keine zwei Gesichter, aber doch unterschiedliche Mimik. Sicherlich sind im Detail kulturell spezifische Differenzen auszumachen, dem Leser des Bandes steht es frei, sie zu suchen.
Als ein letztes Besipiel für die Kraft, mit der sich Poesie sozialer Verantwortung und den Realitäten einer modernen, mitunter mitleidlosen Gesellschaft stellt, soll hier die Bewegung »Einsames Begräbnis« (Eensame Uitvaart) sein. In Groningen ins Leben gerufen, hat sie sich schnell ausgebreitet und findet mittlerweile Anhänger und Nachahmer auch in Kanada und Neuseeland. Am Grab einsam Verstorbener – etwa alte Menschen, Durchreisende, Flüchtlinge, Obdachlose, Drogentoter – lesen Autoren ein Gedicht, das sie auf den Menschen ohne trauernde Angehörige geschrieben haben. Auch von diesen Gedichten sind zwei in Polderpoesie abgedruckt.
Eine Moschee
Für Elhassan Ougfa (1974 – 2014)Du hättest alles werden können, aber wurdest
es nicht: ein Händler leerer Träume
gesammelt in einem alten Topf, oder ein Prinz,der seine Nachbarn gerne besucht. Für nichts und wieder nichts
landetest du auf dem Foto in der Zeitung, mit Stoffjacke
und Hose, aufgebügelt an den Wänden deiner Hütte.Vielleicht hättest du von all dem angesparten Leid
einen Buchstaben kaufen können, um so deine Geschichte zu erzählen.
Vom Schlüssel in deinem Türschloss unter den hohen Augender Palastzinnen. Oder das Märchen um den Kreis
der gefundenen Schätze, der sich immer tiefer in den Wald grub.
Der umgefallene Kühlschrank als Waschbecken.Hinten in deiner Hütte hattest du eine Moschee,
vielleicht hast du dort am Abend gemeinsam mit dem König gebetet.Maarten Inghels (übersetzt von Stefan Wieczorek)
Heraugegeben von Stefan Wieczorek und Christoph Wenzel
Übersetzt von S. Wieczorek, A. Posthuma, G. Seferens, R. Still und W. Hüsmert
Klappenbroschur, 380 Seiten, zweisprachig Niederländisch und Deutsch
Aachen, Berlin: SIC Literaturverlag 2016
Die Webseite des Verlages
Diese Anthologie ist ein aufregendes und intensives Lesebuch. Polderpoesie zeigt eine Generation junger Dichterinnen und Dichter, die Traditionen und Formen der Poesie älterer Kollegen keineswegs ablehnt oder verteufelt, sondern gelassen und entspannt aufnimmt, was nützt, und liegenlässt, was nicht (mehr) taugt. An einer Revolution der flämischen und niederländischen Lyrik war ihnen (und ist ihnen) nicht gelegen. Selbstbewußt wird die eigene Entwicklungslinie gezogen. Diese Lyrik ist spannend, weltnah, poetisch, überraschend und vielsprachig.
Dieser Artikel ist der erste in einer losen Reihe, die bis zur Buchmesse in Frankfurt aufläuft. Die Informationen dazu wurden auf einer erlebnisreichen Reise durch Flandern und die Niederlande mit Stationen in Antwerpen, Gent, Brüssel und Amsterdam gesammelt, zu der mich die Organisatoren des Gastlandauftrittes auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse eingeladen haben.