Eine empfindsame Reise
Laurence Sterne (1713-1768) beschenkte die Welt mit nur zwei Büchern. Beide aber machten Furore wie kaum je andere und zählen zu den „Urmetern“ der Romanliteratur: „Leben und Ansichten von Tristram Shandy Gentleman“ und „Empfindsame Reise nach Frankreich und Italien“. Beide Bücher hat Michael Walter kongenial neu übertragen. Ein Erlebnis.
Den Urvater des modernen Romans neu entdecken Dank der genialen Übertragungen von Michael Walter
Mitten im Krieg macht sich ein Engländer seiner angeschlagenen Gesundheit wegen nach Frankreich auf und erlebt dort verschiedenste Gefühlsverstrickungen. Das ist eigentlich alles was geschieht. Wichtiger als die äußere Handlung aber ist das Innenleben der Hauptfigur Yorick. Sterne war einer der ersten Autoren, der den Seelenregungen seines Romanheldens genau nachspürt, stellvertretend für das Seelenleben des Individuums schlechthin. Der Roman war ein enormer Erfolg, nicht zuletzt in Deutschland. Goethe gehörte ebenso zu seinen Anhängern, wie Jean Paul und Ephraim Lessing; Sternes „Empfindsame Reise“ wurde gar zum Vorbild einer ganzen Epoche der deutschen Literatur: der Empfindsamkeit.
Michael Walter hat nun für den noch jungen, aber in seiner Programmauswahl bislang überaus glücklich agierenden Berliner Verlag Galiani die „Empfindsame Reise“ neu übersetzt. Walters Übertragung zeigt ein feines Gespür für die feinen Zwischentöne des Originals, die subtile Erotik und die leise Ironie. Sterne zeichnet mit feinen Pinselstrichen nuancenreiche Porträts, skizziert mit leichter Hand sehr genau beobachtete Szenen zwischenmenschlicher Begegnungen. Und Sterne ist ein wahrer Psychologe seiner Zeit; bei ihm ist schon im 18. Jahrhundert zu entdecken, was Freud erst viel später wissenschaftlich formulieren sollte: der Mensch ist in allen Empfindungen und Taten unterschwellig geleitet von seiner Sexualität. Die Ideale und hehren Leitlinien der Aufklärung werden konterkariert und unterlaufen von Frivolität und Trieb. In Michael Walters Neuübertragung kann das der Leser nun vorzüglich nachvollziehen. In dieser Übersetzung, die nichts versteckt und verschweigt, präsentiert sich Sternes Text plötzlich als sehr lesenswert und modern.
Unter Weglassung aller bisherigen Übertragungen neu aus dem Englischen übersetzt und kommentiert von Michael Walter
Gebunden, im Halbschuber, 340 Seiten
Berlin: Galiani 2010
Es ist nicht das erstemal, dass sich Walter als kongenialer Sterne-Übersetzer beweist. In den Jahren 1983 bis 1991 erschien bei Haffmanns in neun schön aufgemachten Oktavbändchen die vielgerühmte und preisgekrönte Übersetzung von „Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman“. Bei dtv erlebte diese Ausgabe 1994 ein (überarbeitetes) Revival in Taschenbuchform, um dann 2006 bei Eichborn nochmal als Hardcover auf den Markt zu kommen, erneut vom Übersetzer einer Generalrevision unterworfen. Jetzt ist dieser „Tristram Shandy“ in der Taschenbuchreihe „Fischer Klassik“ für kleines Geld erhältlich.
Ins Deutsche übertragen und mit Anmerkungen von Michael Walter
Broschiert, 794 Seiten
Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch 2010
Der „Tristram“ ist Sternes höher kanonisiertes und (leidlich) bekannteres Werk. Im Mittelpunkt stehen neben dem Ich-Erzähler und Titelhelden Tristram sein Vater und Onkel Toby, und um dieses Trio herum gruppiert Sterne zahlreiche Nebenfiguren. Eigentlich will Tristram sein Leben erzählen, doch daraus wird nichts: denn der Erzähler nimmt sich Freiheiten, die sich bislang noch niemand in der Literatur genommen hatte. So wird der Roman zu einem beispiellosen Meisterwerk der Abschweifung und wilden Assoziation, der Anarchie und Experimentierfreude, in dem auch Erotik und Frivolität triumphieren. Ironisch vielfach gebrochen wird mit Emphase das Recht auf Nonkonformismus und Subjektivität eingefordert – ganz im Gegensatz zum strengen Rationalismus der bürgerlichen Welt. „Tristram Shandy“ nahmen sich zahlreiche Autoren in ganz Europa zum Vorbild (in Deutschland vor allem die Dichter des Sturm und Drang). Noch heute gilt der Roman – auch und vor allem wegen der im Roman integrierten Reflexion über das Schreiben des Romans selbst – als wichtiger Vorläufer der experimentellen Erzählliteratur.
Frei aber sind nicht nur Autor und Buch – frei fühlt man sich vor allem als Leser, wenn man sich auf das wunderbare Abenteuer dieser Lektüre einlässt und plötzlich merkt, wie eng das Korsett so vieler anderer Romane ist. Michael Walters Übersetzung hebt die anarchische, zu Lachfontänen reizende Komik, die bitterböse Ironie und die gnadenlose Lust an der Digression perfekt hinüber in unsere heutige Sprache. Michael Walter sprengt die Ketten, die viele andere Übertragungen ins Deutsche dem Original bislang angelegt haben. Dieser „Tristram Shandy“ und diese „Empfindsame Reise“ bewahren den Duktus der Originale, ohne antiquiert oder gar altmodisch zu wirken, ihre Sprache sprüht und glänzt, sie machen einfach enorm viel Spaß. Dank Michael Walter dürfen wir Laurence Sterne ganz neu entdecken.