Der erste Weltkrieg fällt aus – Zumindest bei Hannes Stein
I bin doch ned deppat, i fohr wieder z’haus!
(Franz Ferdinand)
Das sagt der österreichische Thronfolger lakonisch, nachdem jemand versucht hat eine Bombe auf ihn zu werfen. Und Franz Ferdinand hält Wort. Er kehrt am 28. Juni Sarajevo spontan den Rücken. Einen zweiten Attentatsversuch, den von Gavrilo Princip, wird es somit nicht geben. Wie jeder geschichtlich Gebildete weiß, fällt somit natürlich auch der Erste Weltkrieg aus – zumindest in Hannes Steins Debütroman Der Komet.
Das hat Konsequenzen: denn ohne den Ersten Weltkrieg gibt es selbstverständlich auch keinen Zweiten und in dessen Folge keinen Kalten Krieg. Die Entkolonialisierung Afrikas und Asiens fällt ebenso aus, wie die Kollision mit dem Islam. In Europa bleibt eine komplizierte, aber halbwegs stabile Machtbalance der Staaten. Auf der Welt herrscht Frieden. – Der Komet von Hannes Stein ist ein wundervoll-originelles „Was-Wäre-Wenn-Szenario“ und urkomisch.
Dies ist die Welt, die Hannes Stein imaginiert: Amerika ist ein zurückgebliebener Kontinent voller Cowboys und Hinterwäldler; in Europa sitzen regierende Monarchen auf den Thronen und der Kontinent ist das Maß aller Dinge. Der Nabel Europas wiederum ist das liebenswerte, etwas verschnarchte k.u.k.-Reich Österreich-Ungarn mit seiner Hauptstadt Wien. Die Metropole des Vielvölkerreichs, diese Stadt voller Juden, Psychoanalytiker und Wiener Schmäh, ist der Hauptschauplatz von Der Komet.
Hier lässt Hannes Stein seinen jungen und etwas tumben Protagonisten eine Liaison mit einer Gesellschaftsdame eingehen, deren Mann gerade auf den Mond gereist ist. Der Erdtrabant ist nämlich eine deutsche Kolonie, in die der österreichische k.u.k.-Hofastronom eingeladen wurde. Die Nachrichten allerdings, die er von dort sendet, sind dramatisch. Ein Komet rast auf Kollisionskurs auf die Erde zu und soll in wenigen Monaten dort einschlagen.
Die eigentliche Handlung erscheint mir wenig originell, sie ist – ehrlich gesagt – auch recht nebensächlich. Das Buch wirkt durch den einfachen Kniff des „Was-wäre-wenn“. Mit viel Liebe zum Detail und regem Erfindungsreichtum stattet Stein seinen Roman mit historischen Anspielungen aus. So taucht Hans Moser auf, ist aber ein ganz anderer. Und Auschwitz ist nur in Albträumen präsent, die deutsch-jüdische Tradition ist nicht ausgelöscht, das 20. Jahrhundert ist ein Zeitalter des Ausgleichs, nicht der Extreme – welch schöner Wunschtraum.
Weil – notgedrungen – das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte, die Shoah, nicht stattgefunden hat, wirkt der Roman in vielen Passagen in höchstem Maße befremdlich. Etwa, wenn Anne Frank als große alte Dame der deutschen Literatur auftritt, als Nobelpreisträgerin, die weise und mit nörgelndem Ton die Weltläufte kommentiert. Indem Hannes Stein durchspielt, was hätte passiern können, wenn die Nazis ihre Greuel nicht begangen hätten, verführt er den Leser unweigerlich zum Grübeln. In der Irritation wird ihm das brutale und menschenverachtende Nazi-Regime um so bewusster.
Natürlich hinkt es an vielen Stellen, werden Pferdefüße sichtbar und Ungereimtheiten fallen auf – wie immer bei solchen Konstruktionen. Notgedrungen, möchte man sagen, denn kein Autor ist in diesem Genre wirklich frei. Er muß die Geschichte irgendwie anders verlaufen lassen, aber gleichzeitig muss sie erkennbar bleiben. Für den Leser ist das „Was-wäre-wenn“ nur interessant, wenn er es noch mit dem historischen „So-war-es-und-so-ist-es“ in-Einklang zu bringen vermag. Totale Utopie ist da nicht zielführend und totale Freiheit beim erzählen nicht möglich.
Trotz einiger Einschränkungen ist Hannes Steins Roman Der Komet dennoch ein lesenswertes und über weite Strecken amüsantes Gedankenspiel. Die großen Tragödien des 20. Jahrhunderts kehren sich ins Gegenteil. Was bleibt ist ein triviale, aber tiefe Erkenntnis: welche Glanzstunde es doch gewesen wäre, hätte sich Erzherzog Franz Ferdinand vor 100 Jahren nach dem ersten missglückten Attentat auf ihn tatsächlich einfach vondannen gemacht.