Tellingstedt,
im Oktober 2015
Ende Oktober, gerade noch rechtzeitig, um einen Roman zu betrachten, in dem Arno Schmidt 1972 ein reales Dorf zum Schauplatz einer Science-Fiction-Burleske erkoren hat. Die Handlung in Tellingstedt spielt im Oktober 2014. Vergangenheit und Zukunft treffen sich in der Gegenwart.
Eine Novellen=Comödie in 6 Aufzügen
Oktober 2014, nachdem weite Teile der Erde durch atomare Strahlung verwüstet wurden, sind nur noch zwei Großmächte übrig geblieben; die USA, inzwischen ein Matriarchat, und China, das sich eher als die Karikatur einer Operettenrepublik á la «Madame Butterfly» zeigt, denn als kommunistisches Hardliner-Regimes der späten Mao-Zeit. Und dann gibt es noch ein kleines Reservat auf ehemals deutschem Boden, den kleinen Ort Tellingstedt in Dithmarschen. Hier lassen die Amerikaner die Einheimischen zu ihrer Unterhaltung «good old Europe» spielen. Zwei Delegationen der Großmächte kommen nun nach Tellingstedt, um einen verhärteten, machtpolitischen Konflikt zu lösen. Die Entourage um Nicole Kennan, Aussenministerin der USA, mit ihrem Harem von Beischläfern und die asiatisch-bärbeißigen Chinesen sorgen in Tellingstedt für viel Aufruhr.
Im Zentrum der Ausseinandersetzung stehen Atheismus und Machtpolitik, zwei Themen die Arno Schmidt immer wieder umgetrieben haben. Zusätzlich sorgen jede Menge Intrigen und Verwicklungen für Witz, Klamauk und Spannung. Das wohlgeordnete, ländliche Leben wird gehörig durcheinander gewirbelt.
Erschienen ist Die Schule der Atheisten 1972. Mehrmals hat Arno Schmidt Tellingstedt für Recherchen besucht, zueltzt 1969. Es war einer jener denkwürdigen Ausflüge im VW Bully des Freundes Willy Michels. Alice Schmidt hat die Reisen stets genossen, für Arno waren sie eine bei der Materialsammlung nicht zu umgehende Qual. Auch in Tellingstedt kam es zu den üblichen Verstimmungen. Das Hotel war zu belebt, der Frühstücksraum inakzeptabel, weil zu voll, und die angebliche unersättliche «Vergnügungssucht», vor allem der beiden Damen, war Schmidt dauerhaft zuwider. Nach eineinhalb Tagen war der Ausflug dann auch vorbei, Schmidt hatte sein Material; alles andere wahr egal. Warum ausgerechnet das schleswig-holsteinische Tellingstedt mit seinen heute 2500 Einwohnern von Schmidt als Schauplatz seiner burlesken Utopie ausgewählt wurde, ist nicht bekannt. Vielleicht war es der englische Anklang im Namen, also das telling, das Erzählen. Es hätte ebensogut Bargfeld sein können, das im späten Schmidtschen Erzählwerk sonst Mittelpunkt des Kosmos und Rand des Universums zugleich ist.
:ausgerechnet zu Uns,
nach Tellingstedt!?
Wat wullt de in uns Dörp, he kiekt uns veel to genau, darbi is bi uns doch nu rein gar nix to sehn! Moin, moin. Un denn, denn schrifft he allens op in sien Zettelkram.
Die Zukunft: für Arno Schmidt steht sie im Zeichen des atomaren Untergangs
Viermal hat Arno Schmidt die Handlung seiner Romane in die Zukunft verlegt. In Schwarze Spiegel, geschrieben 1951, berichtet der misanthropische Erzähler vom Überleben und von seiner Erleichterung, im Jahre 1960, nach einem Atomkrieg, von allen lästigen Mitmenschen befreit zu sein. «Das Experiment Mensch, das stinkige, hat aufgehört!»
Im realen 1960 wiederum entsteht Kaff auch Mare Crisium. Der Roman hat zwei Erzählebenen. Eine spielt in einem Dorf in der Lüneburger Heide, das Schmidts Wohnort Bargfeld sehr ähnelt, auch wenn der Name nicht fällt, die zweite auf dem Mond, wo sich in zwei Stationen Russen und Amerikaner belauern, die letzten Menschen, die die Atomkatastrophe und die Vernichtung allen Lebens auf der Erde überlebt haben.
Die Gelehrtenrepublik aus dem Jahr 1955 spielt im Jahr 2008, zum einem in einer (nach einem Atomschlag) entvölkerten USA, was Schmidt Gelegenheit gibt, Fabelwesen wie Zentauren oder «fliegende Köpfe» auftreten zu lassen und zum anderen auf der titelgebenden Künstlerkolonie, einem Schiff, das als neutrales Refugium, über die Meere vagabundiert. Unverkennbar ist das Vorbild hier Jules Vernes Roman Die Propellerinsel.
1972 dann Die Schule der Atheisten, die im Jahr 2014 spielt, dem Jahr in dem Schmidt seinen 100. Geburtstag hätte feiern können. Auch hier ist die Erde durch einen nicht näher gekennzeichneten Atomkrieg in Unordnung geraten. Schmidts letzter, nur zu einem Drittel fertiggewordener Roman Julia, oder Die Gemälde sollte übrigens in seiner zweiten Hälfte aus der Erzählgegenwart des Jahres 1979 ebenfalls zwanzig Jahre in die Zukunft überblenden.
Hüten muss sich der Leser davor, Schmidts Beschreibung der Welt im Jahre 2014 als ernstgemeinte Vision oder gar Dystopie zu lesen. Es ist wohl eher eine parodistische Satire, die vielfältigste Gelegenheiten für Klamauk und banale Blödeleien (viele davon unter der Gürtellinie oder auf dem Niveau des gepflegten Herrenwitzes) liefert.
Es liefe gegen die expliziten Absichten des Autors, die Groteske des Jahres 2014 mit der realen Welt des Jahres 2014 zu vergleichen. Dass etwa die US-Aussenministerin ISIS genannt wird, ist eine dem Autor nicht anzulastende Koinzidenz, die lediglich einen schalen Beigeschmack hinterläßt. Die Möglichkeiten von Literatur sollten, selbst bei einem Schriftsteller wie Schmidt, der stets mit «Blick auf das Undenkbare» fabulierte, nicht überschätzt werden.
Interessanter und lohnenswerter ist eher der Blick auf eine längere Episode des Romans, die als Rückblick im Jahr der Niederschrift spielt. Darin wird eine Schiffbruch und das Überleben auf einer Insel erzählt. Wieder ist es Jules Verne, der die Vorlage liefert; diesmal mit Die Schule der Robinsons von 1882.
Die Konstellationen der Verneschen Vorlage werden in den Erinnerungen des 75-jährigen Friedensrichters William T. Kolderup erneut durchgespielt. Er ist es, der gewissermaßen die Geschicke im holsteinischen Reservat Tellingstedt lenkt. Kolderup berichtet, wie er einst mit zwei weiteren Atheisten sowie drei christlichen Missionaren auf einer einsamen Insel landet. Diese groteske Scharade gibt Schmidt weidlich Gelegenheit, seinem Hass auf den Klerus und dem Religiösen schlechthin ordentlich Luft zu machen. Gleichzeitig wird aber die Realität der Bundesrepublik in den späten 60er Jahren, wenn auch satirisch stark verzeichnet, geschildert; zumindest die Schmidtsche Realität.
Kann und sollte man nun Die Schule der Atheisten lesen? Ja, aber wie alle späten Texte Schmidts mit großem Mut zur Distanz. Auch wenn die Novellen-Comödie leichter verdaubar ist als das kurz zuvor erschienene Monsterbuch Zettel’s Traum, ballastarme Kost ist das Buch nicht. Die Reise nach Tellingstedt, im Oktober 2014, ist durchaus vergnüglich, aber man kann es beim Kurz-Trip belassen. Durchblättern, Stellen suchen, hier und da verweilen. Das ist ausreichend.