100 Jahre Arno Schmidt (II)
Noch einmal Arno Schmidt. So ganz ohne Lesetipps wollte ich seinen 100. Geburtstag doch nicht verstreichen lassen. Große Lobreden oder tiefsinnige Betrachtungen verkneife ich mir aber. (Die haben andere schon ausreichend vorgelegt, wie eine flinke Google-Suche zeigt.) Mein erster Hinweis gilt einer Neuerscheinung, die Neulingen den Einstieg in das literarische Werk Arno Schmidts erleichtert, nämlich „Das große Lesebuch“, herausgegeben von Bernd Rauschenbach. Daran schließt sich ein recht langes Mash-Up aus zahlreichen älteren Artikeln an, die ich in den vergangenen Jahren auf lustauflesen.de veröffentlicht habe und die nach dem Neustart im Dezember 2012 zunächst unter den Tisch gefallen sind. Gleich vorweg: dieser Beitrag richtet sich eher an Einsteiger, als an wahre Schmidt-Kenner; die wissen ohnehin schon alles – und meist der eine besser als der andere. 🙂 Seit dem Erscheinen seiner Erzählung „Leviathan“ (1949) zählt Arno Schmidt zu den bedeutendsten Schriftstellern der deutschen Nachkriegsliteratur. Zumindest bei Kritikern und Kollegen, die Zahl der übrigen Leser hielt und hält sich in Grenzen. Ein Bestseller war Arno Schmidt nie. Doch „Das große Lesebuch“ belegt, welche äußerst originellen und vielfältigen Formen des Erzählens Schmidt entwickelt hat. Das preisgünstige Bändchen aus der Reihe Fischer-Klassik versammelt kürzere Texte Arno Schmidts, die das Werk in seiner gesamten Vielfalt darstellt. Sie zeigen den Erzähler wie den Essayisten, den Sprachvirtuosen und den scharfen Analytiker. Die Mischung von bekannten und unbekannten Texten erleichtert den Einstieg in dieses gewaltige Werk. Bernd Rauschenbach, leitender Vorstand der Arno-Schmidt-Stiftung, hat die Texte für das Lesebuch zusammengestellt und mit einem biographischen Nachwort ergänzt.
Herausgegeben von Bernd Rauschenbach
Taschenbuch, 448 Seiten
Frankfurt/M.: Fischer Verlag 2013
Als weitere Einstiegshilfe in das Leseabenteuer Arno Schmidt biete eine zweibändige Auswahl der Romane und Erzählungen, die 2007 bei Suhrkamp erschienen ist. Damit auch Neulinge in Sachen Schmidt verstehen, warum diese neue zweibändige Zusammenstellung einen besonderen Platz einnimmt, sei zunächst ein kleiner (aber vielleicht erhellender) Exkurs zur Publikationsgeschichte Schmidts gestattet.
Nach erstem Ruhm durch Veröffentlichungen im Rowohlt Verlag wechselte Schmidt Mitte der 1950er Jahre zum Stahlberg Verlag. Hier fand er insbesondere durch die enge Beziehung zu Ernst Krawehl eine fruchtbare verlegerische Heimat. 1970 ging dieser Verlag in der Verlagsgruppe von Georg von Holtzbrinck auf, die dann wiederum vom S.Fischer Verlag geschluckt wurde. Lange Zeit hielt S.Fischer die Texte Schmidts nur in billigen Taschenbuchausgaben vorrätig und ließ dem Werk wenig bis gar keine Pflege angedeien. Nach Schmidts Tod (1979) gründeten seine Witwe Alice Schmidt und Jan Philipp Reemtma die Arno-Schmidt-Stiftung. Sie ist seit 1985 die offizielle Nachlassverwalterin und Inhaberin der Rechte am Gesamtwerk Schmidts. Doch erst nach einem langwierigen und komplizierten Rechtsstreit mit dem S.Fischer Verlag, der nicht ohne weiteres auf seine Nachdruckrechte verzichten wollte, begann die Stiftung 1986 in Zusammenarbeit mit dem Haffmanns Verlag die Herausgabe der „Bargfelder Ausgabe“. Sie bringt Schmidts Werke, geordnet nach Werkgruppen, in der Reihenfolge ihrer Niederschrift und in der Fassung letzter Hand; d.h. alle noch von Schmidt gewünschten Änderungen und Korrekturen werden (weitestgehend) berücksichtigt. Mittlerweile besorgt den Vertrieb der Suhrkamp Verlag. – Nebenbei: der Verlag, bei dem Schmidt zu Lebzeiten nie eine Heimat fand, als Einzelgänger in selbstgewählter Bargfelder Isolation passte er nicht in die sogenannte „Suhrkampkultur“.
Erst seit der „Bargfelder Ausgabe“ also liegen gesicherte Textfassungen vor. Da scheint es mehr als sinnvoll, diese gesicherten Fassungen auch in Einzelausgaben zugänglich zu machen. Genau das geschieht hier mit den „Geschichten aus Deutschland“. Gleichzeitig versucht der Verlag, Schmidt das verkaufsfördernde Etikett eines „Klassikers“ zu verpassen:
Romane und Erzählungen in zwei Bänden im Schuber.
Gebunden, zus. 888 Seiten
Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007
Diese zweibändige Ausgabe vereint die wichtigsten Romane und Erzählungen von Arno Schmidt entsprechend der Chronologie ihrer Handlungzeit. Damit eröffnet sie einen spannend-vergnüglichen Einblick in das Herzstück des Werks Arno Schmidts und in die Geschichte Deutschlands und im besonderen in die der jungen Bundesrepublik. In Band 1 finden sich: „Aus dem Leben eines Fauns“ (erschienen 1953); „Leviathan oder die beste aller Welten“ (1949); „Brand’s Haide“ (1951); „Die Umsiedler“ (1952); „Seelandschaft mit Pocahontas“ (1959); „Das steinerne Herz. Ein historischer Roman aus dem Jahre 1954 nach Christi“ (1956). Band 2 beinhaltet: „Am Zaun“ (Erzählung, 1956), „Trommler beim Zaren“ (Erzählung, 1959), „KAFF auch Mare Crisium“ (1960) sowie die Erzählungen „Kühe in Halbtrauer“ (1961) und „Schwarze Spiegel“ (1951).
Alle diese Texte liefern ganz spezielle Leseerlebnisse. Sie sind oft höchst trocken-humorvoll, prall gefüllt mit einzigartigen Charakteren und Ereignissen und jeder für sich hat seinen ganz unverwechselbaren Stil. Ungewohnt aus heutiger Sicht sind die Anfeindungen, denen sich Schmidt bei der Erstveröffentlichung seiner Texte häufig stellen mußte. „Seelandschaft mit Pocahontas“ zog zum Beispiel eine später niedergeschlagene Strafanzeige wegen Pornographie und Gotteslästerung nach sich, was anschließend bei der Herausgabe von „Das Steinerne Herz“ zu schmerzhaften Eingriffen seitens des Verlegers führte. Erst die „Bargfelder Ausgabe“ brachte den Text ohne Lädierungen.
Schmidts Schreibstil ist einzigartig: er sucht immer die Nähe des Umgangssprachlichen, des Alltäglichen. Es ist ein Stil, der Unausgesprochenes ausspricht, Gedachtes mit formuliert und Sexuelles anspielt, der Laute, Farben und Gerüche präzise erfasst. Wer sich einmal in Schmidts ungewöhnliche Interpunktion und Zeichensetzung eingearbeitet hat, staunt nicht schlecht, wie selbst Fragezeichen, Bindestriche und Klammern zu Worten werden und Handlungen wiedergeben können. Hat man sich in diesen vermeindlichen, im Vergleich zum Spätwerk der Typoskripte noch harmlosen Verhau von Wörtern und Zeichen erst einmal eingelesen, macht das richtig Spaß.
Dem, der selbst vor einer Auswahl in zwei Bänden zum Einstieg noch zurückschreckt, seien die beiden folgenden Ausgaben ans Herz gelegt:
Aus dem Leben eines Fauns – Brand’s Haide – Schwarze Spiegel
Mit einem Nachwort von Hans-Ulrich Treichel
Gebunden, 280 Seiten
Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005
Ursprünglich erschienen die Texte nicht zusammenhängend, doch Schmidt hat sie immer als Trilogie verstanden. „Aus dem Leben eines Fauns“ spielt im Nazi-Deutschland während des Krieges. „Brand’s Haide“ schildert die unmittelbare Nachkriegszeit aus Sicht eines Kriegsheimkehrers. „Schwarze Spiegel“ ist schließlich eine Endzeiterzählung, angesiedelt in den Trümmern eines (von Schmidt sehr gefürchteten) dritten, atomaren Weltkrieges.
Mit einem Nachwort von Jan Philipp Reemtsma
Gebunden, 314 Seiten
Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007
„Kaff“ ist vielleicht nicht ganz so ideal geeignet für eine erste Beschäftigung mit Texten Schmidts wie „Nobodaddy’s Kinder“. Hier macht Schmidt erstmals Gebrauch seiner später verfeinerten Mehrspaltentechnik. Zwei ineinander verschränkte Handlungsstränge sind auch satztechnisch hervorgehoben. Indem sie jeweils nach rechts oder links aus der Seitenmitte heraus geschoben werden, können sie entweder einzeln verfolgt oder im Fluss gelesen werden. Es geht um Karl Richter, der mit seiner Freundin ein Wochenende bei seiner Tante auf dem Land verbringt. Mit einer (frei erfundenen und extemporierten) Erzählung, die (wieder) nach einem Atomkrieg auf dem Mond spielt, versucht Richter seine Freundin zu erheitern und „herumzukriegen“. Aus dieser Erzählung und den Schilderungen des alltäglichen Landlebens ergibt sich ein spannungsreiches Geflecht aus Anspielungen und Zitaten. Und beide Handlungsstränge, sowohl der auf dem Mond, als auch der auf dem Kaff, sind voller Situationskomik.
„Schmidt les’n??“::“Allerdings!“ – Denn es lohnt sich.
Arno Schmidt war nicht nur ein meisterlicher Wortsetzer, sondern hat im gleichen Maße einen ganz besonderen psychosozialen Habitus entwickelt und gepflegt. Zeitlebens meißelte er selbst an seinem Denkmal, setzte sich (nicht selten als allwissend und unfehlbar) in Szene und hat seine Rolle in Literatur und Gesellschaft absichtsvoll definiert. Diesen Selbstinszenierungen geht Wolfgang Martynkewicz in der kleinen, aber lohnenden Rowohlt-Monographie auf den Grund.
Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt.
Broschiert, 160 Seiten
Reinbek: Rowohlt 1992 (=Rowohlts Bildmonografien, Bd. 484)
(Leider nur noch antiquarisch erhältlich)
Bernd Rauschenbach arbeitet derzeit an einer großen und umfassenden Biographie Arno Schmidts. Bis zu deren Erscheinen dauert es aber leider noch. Bis dahin bietet das Bändchen von Martynkewicz den derzeit besten Überblick über Leben und Werk: präzise, knapp und doch umfassend. Martynkewicz folgt dabei einer mittlerweile üblich gewordenen Methode. Einzele Werkgruppen sind augenfällig verankert mit Lebenstationen Schmidts. Die reichten von blanker Not und Hunger als Umsiedler in der Nachkriegszeit bis zur selbstgewählten und immer gewünschten Eremitage in Bargfeld. Wechsel der Wohnorte, waren häufig mit spürbaren Veränderungen der sozialen Situation, sprich Einkommensverhältnissen, und der Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit, sprich Verlage, Leser, Kritiker, verbunden. Diese Wechselspiele von Arbeit und Lebenssituation, Lektüre und literrarischem Schaffen, äußeren Einflüssen und Selbsinszenierung stellt Martynkewicz plastisch und gut lesbar dar.