Eine bibliophile Kostbarkeit mit Gewicht
In Berlins Mitte historische Spuren zu finden ist schwer. Kaum eine andere deutsche Stadt ist in den zurückliegenden einhundert Jahren so gründlich umgestaltet worden wie Berlin. Wo die ursprüngliche Mitte Berlins lag, läßt sich auf aktuellen Stadtplänen längst nicht mehr identifizieren. Bemühungen, den alten Stadtgrundriss sichtbar zu machen, stoßen vielfach auf Unverständnis. Der Wiederaufbau des Hohenzollernschlosses wirkt da auf viele wie ein hilfloser Versuch, versunkene Zeiten künstlich wiederzubeleben. Und je länger über das Schloss diskutiert wird, desto evidenter wird auch die Notwendigkeit stadtgestalterischer Eingriffe auf dem angrenzenden Platz, der heute Marx Engels Forum heißt, und dem namenlosen Areal zwischen Rotem Rathaus und Marienkirche.
Berliner Stadtgeschichte in Druckgrafiken aus drei Jahrhunderten
Das hier vorgestellte Werk legt Stadtplanern für diese Aufgabe nun ein unvergleichliches Hilfsmittel in die Hand. Denn wer Berlins neue Mitte gestalten will, sollte zumindest im Bewußtsein haben, wie die historische Mitte einst aussah. So zeigen mehrere Stiche das Areal um die Marienkirche, also den Neuen Markt. Hier war einst eine kleine Stadt in der Stadt, mit Gassen vielen Häusern und Plätzen. Vollständig restaurieren kann und will man die sicherlich nicht, aber die Bilder zeigen, daß mit der öden Fläche rund um die Marienkirche etwas geschehen muss.
„Berlin in der Druckgrafik 1570 – 1870“ verzeichnet nicht weniger als 4200 Bilder mit berlinischen Motiven. Der Überblick dürfte nahezu lückenlos sein. Geschaffen hat ihn Gernot Ernst, ein Unternehmer im Ruhestand und Sammler von Druckgrafik. Ernst ist ein Amateur im wahrsten Sinne des Wortes. Am Beginn stand das leichtfertig gegebenes Versprechen, den sogenannten Kiewitz, das bislang einzige Verzeichnis Berliner Druckgrafik aus dem Jahr 1937, zu überarbeiten. Nach jahrelanger Recherche in Archiven, Bibliotheken und Verzeichnissen hat Ernst nun ein Lexikon mit Kurzbiographien und Werklisten zu mehr als 500 Künstlern (Maler, Zeichner, Kupferstecher, Lithografen, Baumeister) vorgelegt. Eingeleitet wird der Band mit Abrissen zur Kulturgeschichte und zu den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen Berlins, sowie einer kunsthistorischen Einführung.
Gernot Ernst & Ute Laur-Ernst: Die Stadt Berlin in der Druckgrafik 1570 – 1870
2. durchgesehene Auflage
In 2 Teilbänden
Mit 1359 farbigen und 615 Schwarzweißabbildungen
und eine DVD mit weiteren Abbildungen
Format 21 cm x 28 cm
Gebunden, zusammen 1539 Seiten.
Berlin: Lukas Verlag 2010
Gernot Ernst hat ein Standardwerk für Sammler, Museen und Galerien, geschaffen und ein prachtvolles Liebhaberstück für alle Berlin-Fans. Für letztere ist der zweite Band, bearbeitet von Ute Laur-Ernst, dann die eigentliche Sensation. Nach 550 Stichworten hat sie Grafiken neu sortiert und aufgefächert. Strassen, Plätze, öffentliche und private Gebäude, Denkmäler, Kirchen, Firmen, Bahnhöfe etc. etc. – zu allem liefert Ute Laur-Ernst kurze stadthistorische Texte und die passenden Grafiken. Heraus kam ein historisches Stadtbildlexikon, das man sofort auf endlose Streifzüge durch die Stadt mitnehmen würde, wäre es nicht so umfangreich und damit so schwer; beide Bände bringen zusammen immerhin 6,5 Kilogramm auf die Waage.
Es macht ungeheuren Spaß, die historischen Ansichten mit aktuellen zu vergleichen. Allerdings sei der Betrachter gewarnt: viele Abbildungen nehmen es mit einer realistischen Darstellung nicht gerade genau. Erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts zählt topographische Genauigkeit zu den Tugenden der Künstler. Doch auch die älteren Grafiken haben ihren Reiz, trotz perspektivischer Ungenauigkeit oder künstlerischer Freiheit. (Sehr schön ist z.B. eine der ältesten Gesamtansichten Berlins aus dem Jahr 1539; hinter die Stadt hat der Künstler eine wunderschöne Gebirgslandschaft plaziert.)
Die erste Auflage von „Die Stadt Berlin in der Druckgrafik 1570 – 1870“ erschien im Herbst 2009 und war zur Überraschung der Autoren und des Verlages in kürzester Zeit ausverkauft. Nun liegt dieses prachtvolle Sammlerstück (überarbeitet) wieder vor. Es hat einen enormen Preis, aber der ist mehr als angemessen.