merk=würdig (XI) – Notizen zu einer Relektüre von »Berlin Alexanderplatz«
Der Alexanderplatz ist längst sein eigener Mythos, ein geschichtsträchtiges Areal in der Mitte Berlins, verklärt und verteufelt, vielfach totgesagt und doch immer wieder neu belebt. Im Lauf der Zeiten wurde er beständig umgestaltet und den Bedürfnissen des Augenblicks angepasst. Gleichzeitig diente er immer auch als Bauplatz für Versprechen, als Projektionsfläche einer anbrechenden besseren Zukunft. Er ist kein schöner Platz, war er nie, und ist dennoch Magnet für Touristen und Einheimische. Als Verkehrsknotenpunkt schlägt er täglich Menschenmassen um und als Symbol erträgt er gelassen Sympathie und Ressentiment. Alex, die Kurzform seines Namens, ist Liebeserklärung und Schimpfwort.
Ein Ort der »entseelten Realität« ist der Alexanderplatz auch für Alfred Döblin, hier läßt er seinen Franz Biberkopf stellvertretend für viele einen aussichtslosen Kampf antreten gegen den übermächtigen »Gott der Stadt«, um mit Georg Heym zu sprechen. Trotz des Titels bleibt der Alexanderplatz nur Nebenschauplatz in dem 1929 erschienen Roman. Er liefert die Geräuschkulisse, den Rhythmus, das ständige percussive Stampfen von Baumaschinen, das Geschrei der Händler und Reklamen, das Kreischen der Straßenbahnen und sonore Brummen der Busse und Autos.
Mitten hinein ins Berlin der zwanziger Jahre – mit seinem Menschengewimmel, seinem Straßenlärm, seinem Häusergewirr und seinem explosiven Gemisch aus sozialen Problemen und politischen Umbrüchen der Weimarer Republik – stürzt der Transportarbeiter Franz Biberkopf. Just aus der Strafanstalt Tegel entlassen, wo er vier Jahre wegen Totschlags inhaftiert war, versucht er als ehrlicher Mann ins Leben zurückfinden. Doch Franz Biberkopf gerät in einen Malstrom, dessen Zentrum der Alexanderplatz markiert. und der ihn die dunklen Gssen und Hinterhöfe, die Kaschemmen und U-Bahnhöfe, die Welt der Verbrecher und Prostituierten hineinsaugt. Für die selbsternannten Hüter der Kultur im Nationalsozialismus freilich galte der Jahrhundertroman als »Asphaltliteratur« und wanderte 1933 bei den Bücherverbrennungen ins Feuer.
Nicht nur was Döblin erzählt, sondern auch wie er es erzählt, trifft den Leser mit voller Wucht. Mal schnoddrig, mal sentimental, durchsetzt mit biblisch-apokalyptischer Metaphorik, macht Döblin die Stadt selbst zum Hauptakteur des Romans und zum Widersacher des gutmütig-jähzornigen Biberkopf. In unzähligen Facetten werden die Geräusche, Gerüche und Farben der unerbittlichen Metropole geschildert. Einzigartig ist Döblins lockere Führung der Fabel, die von ihm erstmals im deutschen Roman eingesetzte Technik des Bewußseinsstromes und sein extrem ausgebildeter Wechsel der Erzählperspektiven. Ein gewaltiges Großgemälde, das sich beim Nähertreten in immer wieder neue Kleinstbilder zerlegt. Häufig wird Berlin Alexanderplatz in einem Atemzug mit den Großstadtromanen Ulysses von James Joyce und Manhattan Transfer von John Dos Passos genannt. Döblin hat sich für beide Autoren und ihre Werke in Essays frühzeitig eingesetzt, ob sie ihn direkt beeinflußt haben, läßt sich nur vermuten, ist aber anzunehmen.
Als Kassenarzt für Nervenheilkunde praktizierte Alfred Döblin zeitweise in der Frankfurter Allee, ganz in der Nähe des Platzes, dem er zu literarischem Weltruhm verhalf. Er wußte nur zu gut, wovon er sprach. Seine Patienten stammten auch aus dem Milieu des Franz Biberkopf und Döblin selbst wohnte mehrere Jahre in der Blumenstraße, einer der vielen ärmlichen Straßen der Stralauer Vorstadt. Er hat die Welt des Alexanderplatzes also nicht distanziert beobachtet, er war Teil dieser Welt und wurde ihr genauer Chronist.
Das Buch gehört zu den großen Gesängen vom Untergang des Menschen, von seiner unauflösbaren Tragik im Handeln und Nichthandeln, seinen alltäglichen Kämpfen, seinen Aufschwüngen und Niederlagen, seinen Heldentaten und Leiden und Selbstzweifeln. Eine der großen Passionsgeschichten des 20. Jahrhunderts.
So charakterisiert Dieter Forte den bleibenden Wert von Berlin Alexanderplatz in seinem Nachwort zur Jubiläumsausgabe, die der S. Fischer Verlag 2004 herausgegeben hat. 75 Jahre nach der Erstveröffentlichung erschien sie ihm Umschlag, den der Großmeister der Buchgestaltung Georg Salter für die Erstausgabe entworfen hatte. Nicht nur wegen dieser schönen historischen Reminiszenz ist diese Ausgabe bemerkenswert.
Die Jubiläumsausgabe rekonstruiert durchgehend die Textfassung der Erstausgabe des Romans und berücksichtigt dabei Korrekturen einiger folgender Ausgaben, denen Döblin zu Lebzeiten sein Placet erteilt hat. Ein lesenswerter Anhang gibt detailliert Auskunft zur Editionsgeschichte, listet Textgrundlagen und Quellen, sowie Ausgaben und Übersetzungen. Fußnoten weisen im fließenden Text Abweichungen gegenüber der Haupthandschrift des Autors nach, Typoskripte sind nicht erhalten, und liefern textkritische Kleinkommentare. Der Fairness halber muss angemerkt werden, dass diese Ausgabe ursprünglich von Werner Stauffacher besorgt wurde und im Walter Verlag erschienen ist.
Die Jubiläumsausgabe von Döblins Berlin Alexanderplatz darf als solide Grundlage für künftige Ausgaben gelten und genügt auch wissenschaftlich interessierten Lesern. Sie wurde damals zu einem günstigen Preis angeboten und ist leider längst vergriffen. Von Zeit zu Zeit aber werden einzelne Exemplare auf den einschlägigen Antiquariats-Portalen angeboten, dann heißt es: Zuschlagen!
Die Geschichte vom Franz Biberkopf
Jubiläumsausgabe mit einem Nachwort von Dieter Forte
Gebunden, 490 Seiten, Schutzumschlag der Erstausgabe von 1929
Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag 2004
Nur noch antiquarisch erhältlich
[Die lose Reihe »merk=würdig« widmet sich Büchern, die aus ganz unterschiedlichen Gründen einen besonderen Platz in meiner Lesebiographie und in der Bibliothek einnehmen. Es sind Werke die würdig sind, bemerkt zu werden.]
Bildnachweis: Panorama Alexanderplatz (Foto: Christian Wolff). Quelle: Wikimedia Commons | Fliesenmosaik vom Alexanderplatz (Foto: APPER). Quelle: Wikimedia Commons | Porträt Alfred Döblin (Fotograf unbekannt). Quelle: Wikimedia Commons