Alle sind liebenswert meschugge – »Das Unglück anderer Leute« von Nele Pollatschek
Thene ist eine junge, lebenslustige und kluge Frau. Am liebsten verdaddelt sie die Zeit mit ihrem Freund auf einer kleinen Lichtung nahe ihres Wohnortes Heidelberg. Dort im Odenwald können sie ungestört lesen, Kuchen essen, quatschen und träumen. Aber für erholsame Stunden auf der kleine Waldlichtung bleibt wenig Zeit, denn Thene hat gerade ihren Studienabschluss in Oxford gemacht. Die große Masterfeier steht an … und da beginnen schlagartig auch die großen Probleme. Denn zu diesem einschneidenden Ereignis reist natürlich die ganze Famile an. Nur leider sind in Thenes Familie alle ein wenig meschugge, also im liebenswerten Sinne völlig bekloppt.
»Man muss schon selber bekloppt sein, um es mit Bekloppten auszuhalten.«
Thenes Familienclan ist eine in alle Himmelsrichtungen verstreute, ost-westdeutsche Mischpoke, eine Patchworkfamilie, wie sie sich nur ein kleines bösartiges Teufelchen ausdenken kann. Allen voran: Mutter Astrid. Eine selbstzentrierte, überspannte, kontrollsüchtige und streitlustige Rabenmutter, der ihre sozialen Gutmenschenaktivitäten über alles gehen. Thene und ihre zwei Geschwister, sowie deren drei unterschiedliche Väter spielen in Astrids Leben keine herausragende Rolle, es sei denn sie kann Schicksalsgöttin spielen und bestimmen, wo es langgehen soll.
Das Drama, Das Unglück anderer Leute, nimmt seinen Lauf, als Astrid auf dem Weg von Heathrow nach Oxford (die Masterfeier, wir erinnern uns) auf der Autobahn überfahren wird und stirbt. Niemand sonst ausser Astrid nimmt als Fußgängerin Abkürzungen über Autobahnen.
Mit Mutters Tod beginnt für Thene, ihren Bruder Eli, der zaubern kann wie weiland Houdini und sich mit Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung herumschlägt, ihre Schwester Trixie, die als Kleinkind mehr Hindernis als Stütze ist, sowie für ihren schwulen Vater Georg, seinen Lebenspartner Volker und diverse Großeltern eine Art bitterböser Roadtrip. Von Oxford nach Frankfurt, dann nach Berlin und wieder zurück. Mit an Bord: jede Menge Enttäuschungen, Überraschungen und ein unersättlicher Gevatter Tod … Am Ende überschlagen sich die schicksalhaften Ereignisse und Thene erkennt … Nein, mehr wird hier vom erstaunlichen und schwarz-bösen Ende der Geschichte nicht verraten. Nur so viel: Es macht einige Längen im vorderen Teil des Romans mehr als wett.
»Immer, wenn ich denke, ich bin den Wahnsinn los, passiert etwas und zieht mich wieder zurück.«
Nele Pollatschek verhehlt nicht, dass sie für ihren turbulenten und komischen Debütroman die Macken und Eigenheiten der eigenen Familie und der ihres Freundeskreises sorgfältig studiert und sich ihrer bedient hat. Natürlich hat sie dabei Einzelbeobachtungen zugespitzt, angehäuft und ihre Figuren damit förmlich überschüttet. Kein Mensch ist allein so bekloppt, wie jedes von Thenes Familiemitglieder im Roman. Aber dieser und jener psychische Tick, das ein oder andere verquere Verhaltens- und/oder Denkmuster und das sture Beharren auf Gewohnheiten in unpassenden Momenten sind allen Lesern mit Sicherheit vertraut. Nele Pollatschek übertreibt und überzeichnet, aber sie erfindet nicht. Es ist schon viel drin in diesem Roman vom normalen Leben und unseren Mühen der Ebene. Das macht Das Unglück anderer Leute zu einem mitunter auch lebensweisen Buch, aber vordringlich will es witzig und überdreht sein und ist das auch.
Vielleicht ist die Story in einzelnen Passagen etwas zu überdreht, hier und da die Plot-Schraube etwas zu fest angezogen, so dass es beginnt zu knirschen, vielleicht ist das ein oder andere Bild sprachlich verrutscht oder schief, vielleicht sind die Dialoge manchmal zu sehr auf Pointe getrimmt. Vielleicht sind einige Figuren zu tief in den Klischee-See gestiegen und paddeln nun etwas unbeholfen herum. Vielleicht ist es noch nicht der ganz große Wurf, aber unterm Strich mausert sich Das Unglück anderer Leute zu einer spaßig-überkandidelten Lektüre mit einem verhalten ernsten Grundton. Ein Debütroman, der durchaus zu unterhalten weiß.
Die Botschaft ist ebenso einfach wie bestrickend. Das Leben wäre totlangweilig, wenn nicht die Familie, die Freunde, die Menschen, die wir mögen alle etwas bekloppt wären. Die kleinen und großen Macken der Anderen sind schließlich des Lebens Würze. Man kann gegen sie ankämpfen, man kann versuchen, die Lieben davon zu kurieren, aber das ist letztlich alles aussichtslose Liebesmüh … und ausserdem würde sich im Prinzip sowieso nichts ändern.
Nele Pollatschek: Das Unglück anderer Leute
Gebunden, 224 Seiten
Berlin: Galiani 2016
Mehr Infos zum Buch auf der Webseite des Verlages
Nele Pollatscheck wurde in Ostberlin geboren, studierte englische Literatur und Philosophie in Heidelberg, Cambridge und Oxford. Sie lebt im Odenwald und in Oxford, wo sie als Dozentin arbeitet und gerade ihre Doktorarbeit zum Bösen in der Literatur beendet. Über den »Wahnsinn ihrer Promotion« führt sie auch das wundervolle, nicht immer bierernste (englischsprachige) Blog Oxford Dphile.
Für die Webseite zehnseiten.de hat Nele Pollatschek aus ihrem Debütroman vorgelesen.