Im Gedärm des nordischen Riesen – »Ymir« von Philip Krömer
Der große Heinrich höchstpersönlich schickt Karl auf eine streng geheime und höchst geheimnisvolle Unternehmung. Für Karl und zwei weitere Expeditionsteilnehmer geht es nach Island, genauer tief unter die Insel im Nordmeer. Noch genauer, hinab in die Innereien des urzeitlichen Riesen Ymir, aus dessen Körper der nordischen Mythologie zufolge die Welt geformt wurde, die leere Hirnschale als Himmelsgewölbe darübergestülpt. Schöpfung und barbarisch-brutaler Gewaltakt zugleich. Ymir oder Aus der Hirnschale der Himmel von Philip Krömer ist gleichermaßen ironischer Kommentar auf das Genre des Abenteuerromans als auch postpostmoderne Variante desselben. Von Weitem grüßen Die Edda, Homer, Rabelais, Verne, Melville & Co.
Der Nachname Karls wird im Roman nicht genannt, der des großen Heinrich lässt sich leicht erraten, es ist Heinrich Himmler. Bei diesem Abenteuer sind Nazis im Spiel. Spätestens jetzt darf zu den genannten Altvorderen des Abenteuergenres einer ihrer jüngeren, zeitgenössischen Nachfahren hinzu assoziiert werden, Indiana Jones. Wie bei Steven Spielberg ist auch bei Philip Krömer der Nazi Antagonist schlechthin, die perfekte Figuration des Bösen und Falschen. Es ist hinlänglich bekannt dass von den nationalsozialistischen Führungskadern nicht nur Heinrich Himmler, Reichsführer SS und Begründer der unsäglichen Forschungsgruppe Deutsches Ahnenerbe, die nordische Mythologie okkultistisch vereinnahmt hat und mit ariosopher Esoterik und mythischer Überhöhung eine menschenverachtende Rassentheorie herleitete und bemäntelte.
Die Expedition, deren Verlauf Krömer in seinem Roman minutiös nachzeichnet, startet in einem Bunker in Island. Unter diesem Walhall aus Beton, einem letzten Zuflluchtsort für den Fall des Ragnarök, des Untergangs der Erde im Weltenbrand, öffnet sich ein gewaltiges Höhlensystem. Es handelt sich um Ymirs Schlund und tief unten in den Eingeweiden des schlummernden Riesen, so vermutet es jedenfalls der dem arischen Ahnenerbe verpflichtete GroßHeinrich, läßt sich das große Geheimnis von Herkunft und Verbleib des Urariers lüften.
So bricht denn Karl als Schreiber und Chronist der Expedition zusammen mit dem patenten Soldaten KleinHeinrich und dem SS-Offizier und Esoteriker VonUndZu auf. (Bei diesem Unternehmen sind Namen Schall und Rauch, sie sind verzichtbar; nur Ymir, Odin, Thor, Fenrir und andere mythische Gestalten verdienen es, beim Namen genannt zu werden.) Durch Mund, Speiseröhre, Magen, Dünndarm und Enddarm bis zum Anus Ymirs führt der Weg, durch absolute Finsternis, umtost von Atem- und Darmwinden … und wieder zurück. Der Urarier wird tatsächlich gefunden, doch entspricht sein Wesen keineswegs den Vorstellungen der rassichen Ahnenlehre. Wen wundert’s also, wenn den in den Tiefen Ymirs hausenden Geschöpfen die Klänge von Wagners Tristan und Isolde, die VonUndZu per Koffergrammophon durch die Verdauungsorgane dröhnen lässt, ordentlich zusetzen.
Wenn VonUnZu den perfekten Nazi-Antagonisten verkörpert, wer ist dann der Protagonist, das Äquivalent Indiana Jones’, in Krömers Geschichte? Die Antwort auf diese (nur vermeintlich) simple Frage liefert einen, vielleicht sogar den Nachweis für die pfiffige Qualität dieses Romans. Protagonist ist der Icherzähler Karl. Seine glühende Verehrung GroßHeinrichs und das Glück, ausgewählt zu werden für die esoterisch-mythischen Expedition, belegen, auch er ist ein überzeugter Nazi. Nazis als Protagonisten, als Träger von Sympathie und Anteilnahme sind höchst problematisch. Das weiß auch Philip Krömer und er versteht es meisterhaft, Karl als Figur nicht in Schablonen zu pressen, nicht mit Verständnis heischenden und erklärenden Verweisen zu überhäufen. Karl wächst dem Leser vielleicht nicht ans Herz, aber er folgt ihm in all seiner Ambivalenz gebannt bis zum Ende der Geschichte.
Philip Krömer kommt aus der Poetry Slam Bewegung, gewann 2015 den Wettbewerb zum Open Mike. Literarische Texte live auf einer Bühne zu präsentieren trainiert ungemein. Krömer weiß genau, wie Sprache funktioniert, wie kurze und weite Bögen im Plot gespannt werden, wie steile und flache Steigungen in die Fabel moduliert werden müssen, wann Wendepunkte und wann retardierende Momente zu markieren sind, wann atemlos getrieben und wann Luft geholt werden darf. Ymir ist sein erster Roman und erstaunlich ausgereift. Krömers Erzählen schmiegt sich in Rhythmus und Ton den zitierten und ironisch kommentierten Vorbildern des Abenteuergenres gekonnt an ohne sie simpel nachzuahmen oder zu kopieren. Krömer legt eine enorme erzählerische Kraft an den Tag, die nahezu jeden Irrwitz und jede Wildheit im Plot zu tragen in der Lage ist.
Nordische Mythologie, okkulte Nazi-Esoterik, Wagners Tristan mit seiner rauschhaften in die All-Nacht flüchtenden und in ewig-einziger Liebe auflösenden Musik und Lyrik, die Hohlwelttheorie und Abenteurer, die letzte weiße Flecken auf der Weltkarte real oder mit literarischen Mitteln tilgen möchten, all das vermischt Krömer zu einer wirklich spannenden Geschichte. So durchgeknallt Ymir oder Aus der Hirnschale der Himmel auch sein mag, so gekonnt unterhält der Roman. Die typographische Gestaltung des Bandes, sowie die verwendeten Illustrationen aus einem medizinischen Lehrbuchs des 19. Jahrhunderts steuern ihr Übriges bei zu diesem equilibrischen Balanceakt aus Geheimnis und Deutung.
Gebunden, 214 Seiten
Erlangen: Homunculus Verlag 2016
Mehr Infos zum Buch und Leseprobe auf der Webseite des Verlages.
Ein Lektorengespröch mit dem Autor.