Der Löwensucher – Der grandiose Erstling von Kenneth Bonert
Wenn dieser Roman ein Wein wäre und ich ein Weinkritiker, dann könnte, nein, müsste ich schreiben: ein sensationelles Gewächs, sorgfältig ausgebaut, vollmundig und süffig. Über einer erdigen Basis liegen herbe Gewürznoten, die sich mit süßen Fruchtaromen zu einem runden Geschmackserlebnis mischen. Das erste Nippen prickelt auf der Zunge, der erste Schluck schmiegt sich an den Gaumen und je weiter sich das Glas leert, desto intensiver, schwerer und angenehmer wird der Körper, weil nicht zuletzt auch ein ausgewogener Anteil an Bitterstoffen beigemischt ist. Ein überraschender und auf ganzer Linie überzeugender Neuling, der lange nachschmeckt.
Der Löwensucher erzählt die Lebensgeschichte von Isaac Helger, der in den 1920er Jahren mit seiner Familie aus Litauen nach Südafrika kommt. Hier erhoffen sich die jüdischen Auswanderer ein besseres Leben. Vor allem die Mutter setzt große Hoffnungen in den Sohn, er soll es zu etwas bringen, er soll genug Geld verdienen, damit auch der Rest der Familie nachziehen kann, eines Tages, in ein schönes großes Haus mit Garten. Doch der Lebensweg von Isaac, dem linkischen Junge mit den roten Haaren, entwickelt sich anders als geplant. Er geht viele Umwege, verliert sich, rennt kopflos in Sackgassen, entscheidet sich an Weggabelungen selten für die richtige Abzweigung. Schicksalhafte Begegnungen prägen und verändern ihn auf seinem Weg vom Ghetto Kid zum erwachsenen Mann, etwa die Partnerschaft mit der schillernden Verkaufskanone Hugo Bleznik oder die Feindschaft zu Magnus Oberholzer, dem überzeugten Schwarzen- und Judenhasser. Dann ist da noch Yvonne Lindhurst, das hübsche Mädchen aus reichem Hause, seine große Liebe, die ihm die Eintrittskarte in die wohlhabenden Viertel Johannisburgs lösen soll, und schließlich Avrom Suttner, sein angeblicher Vetter. Nur, warum hat die Mutter diesen geheimnisvollen Verwandten bislang verschwiegen? Welche düsteren Wolken liegen über ihrer Vergangenheit? Als in Europa der Zweite Weltkrieg ausbricht, vermischen sich alte, aufgestaute Konflikte aus der Vergangenheit mit neuen, die aus den Umbrüchen der Gegenwart erwachsen, und Isaac gerät in einen gefährlichen Strudel aus persönlicher Schuld, familiärem Leid und großer Zeit- und Weltgeschichte.
Viele große und schwere Themen packt Kenneth Bonert in seinen Debütroman: Antisemitismus, Judenmord, Apartheid, Nationalismus, Ausbeutung, Wohlstandsgefälle, Sozialdarwinismus. Aber weil er das alles ganz nah an seinen Figuren abhandelt, bleibt er stets glaubwürdig. Bonert entwirft ein lebendiges, authentisches und packendes Zeit- und Sittengemälde Südafrikas in den 30er und 40er Jahren. Er ist selbst ist in Johannesburg als Sohn jüdischer Einwanderer aufgewachsen, später zogen er und seine Familie nach Kanada. Der Löwensucher ist kein autobiografischer Roman, doch unverkennbar in starkem Maß beeinflußt vom Leben und Schicksal der Eltern und Großeltern. Zusätzlich wurde Bonert vom Wunsch getrieben, die selten erzählte Geschichte der Minderheit der jüdischen Einwanderer auszubreiten, deren Schicksale und Lebensläufe ausserhalb Südafrikas in der Wahrnehmung immer vom Konflikt der Arpatheit überlagert werden. Im Blog des Diogenes Verlag berichtet er ausführlich darüber und legt weitere Quellen zu seinem Südafrika- und Familienepos offen.
Kenneth Bonert zieht in Der Löwensucher geschickt alle Register, sicher und traumwandlerisch beherrscht er die Klaviatur der großen Erzählkunst. Er entwirft lebendige Szenen, mal munter, mal bedrohlich und legt seinen Figuren pointierte und lebendige Dialoge in den Mund, in allen denkbaren Sprachen und Dialekten Südafrikas. (Für diese Mischung aus Jiddisch, Afrikaans, Zulu und Englisch hat die Übersetzerin Stefanie Schäfer überzeugende deutsche Variationen und Entsprechungen gefunden.) Bonert zeichnet und skizziert selbst kleinste Nebenfiguren mit großer Liebe zum Detail und jedesmal, wenn die Kitsch-Alarm-Sirene zu schrillen droht, dreht er gekonnt ab, schiebt die Geschichte mit seinem sicheren Gespür für Handlung in eine andere Richtung und verpasst seinen Charakteren überraschend neue Dimensionen. Es sind Menschen wie aus dem Leben gegriffen, nie ausschließlich gut oder ausschließlich böse. (Allen voran der Held der Geschichte; Isaac möchte man manchmal richtig feste in den A… treten und dann wieder tröstend in den Arm nehmen.) Dabei bleibt Bonert stets glaubwürdig und überzeugend, alles, was er erzählt, ist nachvollziehbar und realistisch und läßt gleichzeitig der Phantasie des Lesers viel Fläche und Freiraum für lebendiges Kopfkino. Ja, dieser süffig-pralle, quicklebendig erzählte Roman schreit förmlich nach einer Verfilmung.
Selten ist mir, das muss ich bewundernd einräumen, in jüngster Vergangenheit ein Roman wie dieser in die Hände gefallen. Die Seiten, immerhin 800, schlagen sich wie von selbst um, das Buch reißt den Leser förmlich mit, atemlos folgt er Isaac durch diese grandiose Mischung aus Familienepos, Zeit- und Kulturgeschichte, Schicksals- und Liebesroman. Komisch, tragisch und umwerfend – ein grandioses Debüt.
Aus dem Englischen von Stefanie Schäfer
Gebunden, 800 Seiten
Zürich: Diogenes Verlag 2015
(Link zur Paperback-Ausgabe: ersch. Ende September 2016 im Diogenes Verlag.)
Ebenso begeistert wie ich äußert sich auch die Klappentexterin zu Der Löwensucher